Die bisherigen Überlegungen zur Robustheitsprüfung des Klimaneutralitätsnetzes beziehen sich im Vergleich zum Netzentwicklungsplan auf alternative Entwicklungen im Wärme- und Stromsektor. Aber was passiert, wenn die Elektrifizierung noch schneller voranschreitet als erwartet? Wichtige Technologien zur Reduzierung von CO2-Emissionen im Verkehr und in der Wärmeversorgung basieren auf der Verwendung von Strom als Energiequelle. Elektrischer Strom, der aus erneuerbaren Energiequellen gewonnen wird, ersetzt fossile Energieträger wie Öl oder Gas, wenn er beispielsweise in Elektroautos (E-PKW) oder Haushaltswärmepumpen eingesetzt wird.
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Elektrische Wärmepumpen sind derzeit sehr beliebt: In mehr als der Hälfte aller im Jahr 2021 neu errichteten Wohngebäude werden sie zur Wärmeerzeugung verwendet. Gleichzeitig nimmt die Verwendung von Gasheizungen in neuen Gebäuden stark ab. Ähnliche Tendenzen sind auch im Verkehrsbereich zu sehen. Im ersten Halbjahr 2023 hat sich die Anzahl der Elektroautos mit 550.000 Neuzulassungen fast verdoppelt (Stand 01. Juli 2023). Wenn dieses Wachstum anhält, könnten sich diese Technologien schneller durchsetzen als bisher angenommen. [1],[2]
Auch im Netzentwicklungsplan 2023 werden diese Technologien primär in den jeweiligen Sektoren eingesetzt, was zu einem erheblichen Anstieg des Bruttostromverbrauchs im Jahr 2045 führt. Als Referenz für die im Folgenden beschriebenen Untersuchungen dient das NEP-Szenario C 2045. Im Szenario G der Robustheitsprüfung wird eine noch intensivere Elektrifizierung in den Bereichen Verkehr und Wärme untersucht: Es wird von einem starken Anstieg dezentraler Lasten ausgegangen, konkret von 16 Millionen Wärmepumpen und 46 Millionen Elektrofahrzeugen. Dies führt zu einem Anstieg des Bruttostromverbrauchs auf knapp 1.500 Terawattstunden (TWh).
Starke Elektrifizierung
Es wird eine sehr starke Durchdringung von Wärmepumpen und E-PKW unterstellt. Dabei werden 2,4 Mio. Wärmepumpen und 13 Mio. E-PKW für 2045 zusätzlich angenommen.
Berücksichtigung neuer Netzanschlussanfragen
Basierend auf B2037 berücksichtigt das Szenario H die in der Zwischenzeit eingetroffenen Projektanfragen in Höhe von 15,4 GW in der Amprion-Regelzone. Eine ähnliche Entwicklung ist auch in den anderen Regelzonen Deutschlands zu erwarten.
Vollständige Realisierung der Projektmeldungen
In diesem Szenario wird unterstellt, dass alle gemeldeten Lasten auch tatsächlich an den jeweils ausgewiesenen Standorten umgesetzt werden.
Zur Deckung der erhöhten Stromnachfrage wird ein zusätzlicher Ausbau von erneuerbaren Energien (EE) im Vergleich zu C 2045 angenommen. Die zusätzlichen 35 Gigawatt (GW) Photovoltaik (PV) und 12 GW Onshore-Wind werden gleichmäßig über Deutschland verteilt. Aufgrund der Bevölkerungsverteilung in Deutschland steigen bei einer erhöhten Elektrifizierung in privaten Haushalten und im Verkehr die Bedarfe in den südlichen Regionen Deutschlands stärker als die im Norden. Dies verschärft die Lastsituation vor allem in Ballungszentren wie Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg. In NRW steigt das Defizit zwischen Erzeugung und Last von 92 TWh auf 104 TWh.
Infolgedessen erhöht sich die Notwendigkeit des Stromtransports von Nord- nach Süddeutschland auf Spitzenwerte von 109 Gigawatt. Dies entspricht einem Anstieg von 6 Gigawatt gegenüber dem Referenzszenario C 2045 und ist hauptsächlich auf den steigenden Strombedarf im Süden Deutschlands zurückzuführen. Die Überlastungen im Übertragungsnetz nehmen in ganz Deutschland zu, wobei die Nord-Süd-Transportwege besonders betroffen sind. Der Bedarf an Redispatch steigt erheblich um etwa 5,5 TWh im Vergleich zum Referenzszenario.
Szenario H: Berücksichtigung neuer Netzanschlussanfragen in der Amprion-Regelzone
Im Szenario H wird eine erhöhte Industrienachfrage untersucht – also ein entgegengesetzter Trend als im Szenario F beschrieben. Dabei wurden neue Anfragen von Industriekunden, die sich direkt an das Amprion-Übertragungsnetz anschließen wollen, berücksichtigt.
Für den erforderlichen Höchstspannungs-Netzanschluss neuer beziehungsweise zusätzlicher Leistungen melden Industrieunternehmen ihre Bedarfe beim zuständigen Übertragungsnetzbetreiber. Diese Meldungen werden den Netzplanungsprozessen der Übertragungsnetzbetreiber zugrunde gelegt. Allein im Zeitraum vom März 2022 bis zum März 2023 wurden in der Amprion-Regelzone Netzanschlussanfragen von zusätzlichen 15,4 GW eingereicht. Diese Projektmeldungen gingen erst nach Festlegung der Eingangsparameter des Szenariorahmens ein und wurden daher im aktuellen Netzentwicklungsplan nicht berücksichtigt. Sie bilden jedoch die Grundlage für die Lastentwicklung in Szenario H, dem das Szenario B2037 als Referenz dient.
Dabei zeigt sich ein anderes Bild der industriellen Transformation: Bestehende Industriestandorte greifen im Rahmen der Dekarbonisierung auf klimaneutrale Energieträger und Verfahren zurück. Die Elektrifizierung von Anwendungen oder der Einsatz von Wasserstoff spielen dabei eine wesentliche Rolle.
Neue Netzanschlussanfragen in Höhe von 15,4 GW in der Amprion-Regelzone verschärfen Transportaufgabe
In den insgesamt 15,4 GW neuen Netzanschlussanfragen sind Anfragen für Elektrolyseanlagen (9,1 GW) und Industriekunden (4,3 GW) enthalten. Zusätzlich werden 2 GW neue Batteriespeicherprojekte berücksichtigt. Trotz neuer Power-to-Gas- Projektanfragen wurde die insgesamt installierte Leistung an Elektrolyseuren für 2037 in Szenario H nicht erhöht, sondern entspricht weiterhin 26 GW. Bei einer vollständigen Umsetzung der neu eingetroffenen Projektmeldungen wäre die politische Zielgröße von 10 GW Elektrolyseure bis 2030 allein in der Amprion-Regelzone bereits weitestgehend erfüllt. Auch die gesamte installierte Leistung der Batteriespeicher bleibt in Szenario H mit 23,7 GW gleich zur Referenz.
Eine ähnliche Entwicklung der Netzanschlussanfragen ist auch in den Regelzonen der anderen Übertragungsnetzbetreiber zu erwarten. In Szenario H können jedoch aufgrund der Regelzonenverantwortlichkeit nur neue Projekte im Amprion-Netzgebiet berücksichtigt werden.
Fehlende Allokationssignale sorgen für unkoordinierten Lastzuwachs
Infolge fehlender Regulierung für den Bau von Elektrolyseuren (zum Beispiel Allokationssignale für eine systemdienliche Verortung) entstehen die zusätzlichen Elektrolyseure in aller Regel verbrauchsnah. Die neuen Projektmeldungen sind maßgeblich in NRW verortet. Diese sorgen für eine deutliche Verschiebung der Lastregionalisierung gegenüber den Annahmen im aktuellen Netzentwicklungsplan 2037/2045 (2023). Während im Netzentwicklungsplan noch rund 80 Prozent der berücksichtigten Elektrolyseure im Norden allokiert sind, zeigt das Ergebnis hier nahezu eine Gleichverteilung bekannter Projektanfragen auf die südlichen und nördlichen Regionen Deutschlands.
Neue Netzanschlussanfragen führen zu weiteren Netzbelastungen
Die Integration der zusätzlichen Projektanfragen und die damit einhergehenden Mehrbelastungen in NRW und Hessen sorgen für einen Anstieg der Transportaufgabe vom windreichen Norden in die Lastzentren im Süden Deutschlands. Diese steigt in der Spitze von 88 auf 99 GW an. Ebenso ist eine Erhöhung der Transportaufgabe im Mittel erkennbar. Im Vergleich zum B2037-Szenario steigt das Redispatch-Volumen um 5,9 TWh pro Jahr an. Es sind also weitere Eingriffe zur Wahrung der Netzsicherheit erforderlich.
In dieser Variante zeigt sich, dass das neu identifizierte Klimaneutralitätsnetz des Netzentwicklungsplans 2037/2045 (2023) nicht ausreichend dimensioniert ist. Über den vorgeschlagenen Netzausbau hinaus sind weitere Ausbaumaßnahmen erforderlich, um das verbleibende Redispatch-Volumen aus dem NEP beizubehalten.
Quellen:
- [1] Mehr als die Hälfte der im Jahr 2021 gebauten Wohngebäude heizen mit Wärmepumpen - Statistisches Bundesamt (destatis.de)
- [2] KBA. (21. August, 2023). Anzahl der Elektroautos in Deutschland von 2006 bis Juli 2023 [Graph]. In Statista. Zugriff am 10. Oktober 2023, von https://de.statista.com/statistik/daten/studie/265995/umfrage/anzahl-der-elektroautos-in-deutschland/