Robustheitsprüfung Klimaneutralitätsnetz

Teil 2: Breiterer Technologieeinsatz im Stromsektor

Von Thomas Anderski, Niklas Berg, Lukas Beschow, Thomas Dederichs, Marcel Gallus, Birte Greve, Lukas Groterhorst, Henry Hoffmann, Alexander Lindner und Miriam Sander (Amprion GmbH)

Innerhalb der „Robustheitsprüfung Klimaneutralitätsnetz“ analysiert Amprion zusätzliche Szenariopfade zum Netzentwicklungsplan 2037/2045 (2023). Dadurch wird der Szenariotrichter weiter aufgespannt und der im NEP 2037/2045 (2023) identifizierte Netzausbaubedarf auf Robustheit bewertet. Amprion hat mit Unterstützung der Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FfE) mehrere Szenarien und Parametervariationen entwickelt, die über den Netzentwicklungsplan hinausgehen, aber stets ein klimaneutrales Energiesystem unterstellen. Wir stellen die vier Fokusthemen der Robustheitsprüfung vor:

1. Beitrag: Erhöhter Wasserstoffeinsatz zur Raumwärmebereitstellung
2. Beitrag: Breiterer Technologieeinsatz im Stromsektor
3. Beitrag: Abwanderung einzelner Industrieprozesse
4. Beitrag: Verstärkte Elektrifizierung

Der Ausbau der erneuerbaren Energien muss zur Erreichung der Klimaziele stark beschleunigt werden.

Die Basis eines klimaneutralen Energiesystems bilden zukünftig die erneuerbaren Energien (EE), insbesondere Wind und Sonne. Sie ermöglichen eine Dekarbonisierung des Stromsektors und im Zuge einer verstärkten Elektrifizierung auch Netto-Null-Emissionen in den Endenergie-Verbrauchssektoren. Um die ansteigende Stromnachfrage zu decken, ist ein deutlicher Ausbau der erneuerbaren Energien erforderlich. Die politische Zielsetzung hierfür skizziert das Osterpaket des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) aus dem Jahr 2022. Demnach soll die installierte Leistung von Onshore-Wind auf 115 Gigawatt (GW) bis 2030 ansteigen und bis 2040 mindestens 160 GW erreichen. Zudem ist ein Anstieg der Photovoltaik-Leistung auf 215 GW bis 2030 und weiter auf 400 GW bis 2040 gesetzlich verankert. Zusätzlich soll die installierte Leistung an Offshore-Windenergie 70 GW bis 2045 erreichen. Im Netzentwicklungsplan werden die politischen Zielsetzungen bis 2045 erreicht und teilweise sogar übertroffen. Um die politischen Ziele zu erreichen, müssen bis 2040 4,9 GW Onshore-Wind und 17,9 GW Photovoltaik (PV) pro Jahr gebaut und angeschlossen werden. Zum Vergleich: In den Jahren zwischen 2010 und 2021 lagen die durchschnittlichen jährlichen Zubauraten bei etwa 2,9 GW Wind Onshore und 3,9 GW PV. Nur im Jahr 2017 wurden mit 5,3 GW die notwendigen 4,9 GW Onshore-Wind pro Jahr überschritten. Die bisherigen Zubauzahlen reichen daher bei weitem nicht aus, um die Ziele der Bundesregierung zu erreichen. Die jährlichen Zubauzahlen bei PV müssen sich ab sofort mehr als vervierfachen. Für Onshore-Wind muss bis 2040 der historisch maximale Zuwachs aus dem Jahr 2017 von nun an jährlich realisiert werden. [1] [2]

Gleichzeitig hat Deutschland den Kernenergieausstieg bereits vollzogen und plant zudem laut Koalitionsvertrag „idealerweise bis 2030“ aus der Kohleverstromung auszusteigen. Es fehlt langfristig an gesicherter Leistung im Stromsektor, die durch neue Wasserstoffkraftwerke ersetzt werden kann. Die notwendigen Investitionen in neue Kraftwerkskapazitäten bleiben derzeit jedoch aus. Technologien zur klimaneutralen Stromerzeugung wie die Erweiterung von fossilen Kraftwerken um Carbon Capture and Storage (CCS) oder Carbon Capture and Usage (CCU) stehen aktuell nicht im Fokus der politischen Diskussion. Sie bieten jedoch neben Wasserstoffkraftwerken das Potenzial, zukünftig einen Beitrag zur Bereitstellung von gesicherter Erzeugung zu leisten.

Verzögerter EE-Ausbau wird durch den Einsatz alternativer Stromerzeugungstechnologien kompensiert

Das Szenario E unterstellt einen verzögerten Ausbau von Photovoltaik- und Wind-Onshore-Anlagen bis 2045 (siehe Abbildung). Für Photovoltaik sinkt die Zubaurate auf 10 GW, für Onshore-Wind sinkt der Zubau auf 3 GW pro Jahr. In der Folge entfallen circa 180 Terawattstunden (TWh) erneuerbarer Strom, der bei gleichbleibender Lastentwicklung bis 2045 anderweitig zur Verfügung gestellt werden muss. Daher wird unterstellt, dass einige Steinkohlekraftwerke mit CO2-Abscheidung und -Speicherung (CCS) umgerüstet werden und zur klimaneutralen Stromerzeugung beitragen. Die Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FfE) hat untersucht, welche bestehenden Steinkohlekraftwerke um die CCS-Technologie erweitert werden können. Unter Berücksichtigung von Standortfaktoren wie Effizienzanforderungen, Kraftwerksalter und Nähe zu CO2-Senken zeigt das Ergebnis eine Umrüstung von 5,5 GW Steinkohlekraftwerken, die hauptsächlich im Westen und Süden Deutschlands stehen.

Kernannahme 1:

Erweiterung von Steinkohlekraftwerken um CCS

Die notwendigen jährlichen Ausbauraten werden nicht erreicht. Bei einer stetig wachsenden Stromnachfrage sind alternative Erzeugungstechnologien zur klimaneutralen Stromerzeugung einzusetzen. Dafür werden bestehende Steinkohlekraftwerke mit CCS ausgestattet.

Kernannahme 2:

Einsatz von Direct-Air-Capture-Anlagen

Zur Abscheidung verbleibender Emissionen werden Direct-Air-Capture-Anlagen in unmittelbarer Nähe von Industriebetrieben unterstellt.

Kernannahme 3:

Breiterer Technologieeinsatz zur Wasserstofferzeugung

Neben grünem Wasserstoff spielt in diesem Szenario auch türkiser Wasserstoff via Methanpyrolyse eine entscheidende Rolle. Im Vergleich hat der Prozess einen deutlich geringeren Strombedarf und weist daher eine höhere Energieeffizienz auf. Der anfallende Kohlenstoff kann in Industrieprozessen, die auch langfristig auf Kohlenstoff angewiesen sind, genutzt werden.

Ein verstärkter Einsatz von Biomasse im Stromsektor deckt zusätzlich den Strombedarf. Als Referenz für diese Untersuchung dient das B2045 Szenario des Netzentwicklungsplans 2037/2024 (2023).

Breiterer Technologieeinsatz für die Wasserstofferzeugung


Aufgrund des geringen EE-Angebots wird Wasserstoff nur zu einem kleinen Teil durch innerdeutsche Elektrolyse-Anlagen bereitgestellt. Zusätzlich zur Elektrolyse wird auch Methanpyrolyse zur Erzeugung von klimaneutralem Wasserstoff eingesetzt. Dabei wird Methan unter Wärmezufuhr in Kohlenstoff und Wasserstoff zerlegt. Zur Nutzung des Kohlenstoffes wird eine Allokation nahe bestehender Industriestandorte unterstellt. Im Vergleich zur Elektrolyse wird für den Prozess knapp achtmal weniger Energie benötigt.

Um die verbleibenden CO2-Emissionen zu minimieren, zeigt das Ergebnis der FfE-Untersuchung einen zusätzlichen Einsatz von Direct-Air-Capture-Anlagen (DAC) an Industriestandorten. DAC können CO2 aus der Umgebungsluft filtern und tragen so zur Reduktion der Emissionen bei. Das Szenario E der Robustheitsprüfung orientiert sich hierbei an den Ergebnissen der FfE-Untersuchung. Teilweise weichen die Szenarioannahmen aufgrund von unterschiedlichen Modellen voneinander ab.

Reduzierte Elektrolyse-Leistung auch im Norden

Im NEP werden die Elektrolyseure zunächst nach EE-Überschüssen und anschließend zur Engpassreduktion verortet. Im NEP sind die Regionen Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein sehr stark durch Elektrolyseure geprägt. Dort sinkt im vorliegenden Szenario die installierte Elektrolyse-Leistung auf ein Drittel. Die geringere Kapazität an Elektrolyseuren in diesem Szenario sorgt dafür, dass Stromspitzen nicht in dem Maße für Elektrolyseure genutzt werden wie im Referenzszenario B2045.
In den südlichen Bundesländern werden Elektrolyseure maßgeblich durch Pyrolyseanlagen ersetzt, um eine Versorgung der Industrie mit Wasserstoff sicherzustellen. Somit kann die bestehende Erdgasinfrastruktur in den südlichen Regionen weiterhin genutzt werden.

Die Energiebilanz zeigt die Differenz zwischen der Stromerzeugung und der Last je Bundesland auf. Sofern in einer Region mehr Strom erzeugt als verbraucht wird, ist die Bilanz positiv. Im Falle eines Erzeugungsdefizits fällt die Bilanz negativ aus. Somit gibt die Grafik eine erste Indikation über Erzeugungs- und Lastzentren in Deutschland. Bayern entwickelt sich zu einem Nettoimporteur, da die installierte Leistung aus erneuerbaren Energieträgern überproportional zur Elektrolyselast sinkt.
Unter Berücksichtigung der Leistungsbilanz je Bundesland entsteht ein Erzeugungsdefizit von 177 TWh im Süden und ein Erzeugungsüberschuss von 144 TWh im Norden Deutschlands.

Der Importbedarf für elektrischen Strom steigt in Deutschland leicht. Im Jahressaldo werden 10,3 TWh mehr Strom importiert, insbesondere aus Dänemark und den Niederlanden.

Die Transportaufgabe steigt im Mittel, in der Spitze bleibt sie jedoch auf einem ähnlichen Niveau.

Der Transportbedarf im Übertragungsnetz vom Norden in den Süden Deutschlands gilt als guter Indikator zur ersten Einschätzung der Belastung im Übertragungsnetz. Der Nord-Süd-Transportbedarf gibt an, wie viel Leistung in einer Stunde des Jahres von einer Region in eine andere transportiert wird. Der Zuschnitt wird entlang des 50,4°-Breitengrades und der Amprion-Regelzone gewählt, analog zur Definition der vier Übertragungsnetzbetreiber.

Die Jahresdauerlinie zeigt den Nord-Süd-Transportbedarf geordnet nach der Höhe des Transportbedarfs in einer Stunde des Jahres. Im Maximum liegt der Transportbedarf mit 91 GW nur leicht unter dem Maximalwert des Referenzszenarios B 2045. In Szenario E steigt der Transportbedarf im Vergleich zum Referenzszenario im Mittel um 4,5 GW. Grund für den Anstieg der Transportaufgabe im Jahresverlauf ist vor allem der hohe EE-Überschuss im Norden mit gleichzeitiger Reduzierung der Last infolge der reduzierten Anzahl an Elektrolyseanlagen.

Die umgerüsteten Steinkohlekraftwerke mit CCS-Technologie befinden sich gemäß der FfE-Untersuchung maßgeblich im Westen und Süden Deutschlands. Mit 2.600 Volllaststunden im Jahr stellen die 5,5-GW-Steinkohlekraftwerke 14 TWh Strom bereit. Infolge ihrer angenommenen Allokation haben diese Kraftwerke einen senkenden Einfluss auf die Belastung im Zielnetz.

Der Bedarf an Markteingriffen zur Bewirtschaftung von Netzengpässen steigt

Die Auslastungen im deutschen Übertragungsnetz sind trotz reduzierter EE-Leistung und Steinkohlekraftwerken mit CCS vergleichbar mit denen im Referenzszenario. Zur Bewirtschaftung von Netzengpässen sind trotz punktueller Entlastungen im Übertragungsnetz mehr Eingriffe erforderlich. Besonders im Osten und Süden Deutschlands werden einzelne Stromkreise entlastet. Eine höhere Auslastung von Stromkreisen zeigt sich besonders bei Nord-Süd-Verbindungen: Da im Norden Deutschlands mehr Last als Erzeugung wegfällt, steigt die Transportaufgabe in Richtung Süden. Das verbleibende Redispatch-Volumen steigt um etwa 0,6 TWh pro Jahr gegenüber der Referenz.

Das im Netzentwicklungsplan 2037/2045 (2023) ausgewiesene Klimaneutralitätsnetz lässt sich auch mit Änderungen der hier unterstellten Erzeugungsstruktur in diesem Szenario weiterhin nachweisen.

Fazit:

Ein breiterer Technologieeinsatz wie beispielsweise Carbon Capture and Storage (CCS), Methanpyrolyse und Direct-Air-Capture-Anlagen (DAC) kann je nach räumlicher Verortung zu leicht höheren Netzengpässen führen. Das Klimaneutralitätsnetz gemäß des Netzentwicklungsplans 2037/2045 (2023) erweist sich unter den veränderten Rahmenbedingungen weiterhin als äußerst robust.

Quellen:

[1] Jährliche neu installierte Leistung von Onshore-Windenergieanlagen in Deutschland in den
Jahren 2000 bis 2022 (in Megawatt) [Graph], Deutsche WindGuard, 18. Januar, 2023. [Online]. Verfügbar:  https://de.statista.com/statistik/daten/studie/218904/umfrage/neu-installierte-windenergieleistung-in-deutschland/

[2] Entwicklung der jährlich installierten Leistung von Photovoltaikanlagen in Deutschland in den Jahren 2000 bis 2021 (in Megawattpeak) [Graph], Fraunhofer ISE, 14. April, 2022. [Online]. Verfügbar:  https://de.statista.com/statistik/daten/studie/29264/umfrage/neu-installierte-nennleistung-von-solarenergie-in-deutschland-seit-2004/

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