Robustheitsprüfung Klimaneutralitätsnetz

Teil 3: Abwanderung einzelner Industrieprozesse

Von Thomas Anderski, Niklas Berg, Lukas Beschow, Thomas Dederichs, Marcel Gallus, Birte Greve, Lukas Groterhorst, Henry Hoffmann, Alexander Lindner und Miriam Sander (Amprion GmbH)

Innerhalb der „Robustheitsprüfung Klimaneutralitätsnetz“ analysiert Amprion zusätzliche Szenariopfade zum Netzentwicklungsplan 2037/2045 (2023). Dadurch wird der Szenariotrichter weiter aufgespannt und der im NEP 2037/2045 (2023) identifizierte Netzausbaubedarf auf Robustheit bewertet. Amprion hat mit Unterstützung der Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FfE) mehrere Szenarien und Parametervariationen entwickelt, die über den Netzentwicklungsplan hinausgehen, aber stets ein klimaneutrales Energiesystem unterstellen. Wir stellen die vier Fokusthemen der Robustheitsprüfung vor:

1. Beitrag: Erhöhter Wasserstoffeinsatz zur Raumwärmebereitstellung
2. Beitrag: Breiterer Technologieeinsatz im Stromsektor
3. Beitrag: Abwanderung einzelner Industrieprozesse
4. Beitrag: Verstärkte Elektrifizierung

Die energieintensive Industrie steht aufgrund hoher Energiekosten unter Druck

Im Industriesektor wird in Deutschland die meiste Energie verbraucht, noch vor dem Haushalts- (28 Prozent) und Verkehrssektor (27 Prozent). Mit etwa 700 Terawattstunden (TWh) wurden im Jahr 2021 mehr als 29 Prozent der gesamten Endenergie in der Industrie eingesetzt. Die Herstellung von chemischen Erzeugnissen wie Ammoniak oder Methanol, die Erzeugung von Stahl und die Mineralölverarbeitung sind besonders energieintensive Wirtschaftszweige und bilden den größten Anteil der Energienachfrage. Zusammen mit der Herstellung von Glas, Keramik, Papier und Pappe bilden diese fünf Branchen 77 Prozent des industriellen Energieverbrauchs. [1] [2]

Wesentliche Energieträger sind immer noch Erdgas, Kohle und Öl, die mehr als 60 Prozent des Endenergieverbrauchs der Industrie decken. Besonders in der Chemieindustrie wird Erdgas nicht nur energetisch, sondern auch als Grundstoff für chemische Produkte genutzt.

Infolge der gestoppten Gaslieferungen aus Russland nach Europa und dem zeitgleichen Einfuhrverbot von russischem Öl und Kohle hat der Gaspreis im vergangenen Jahr ein Rekordniveau erreicht. Auch Kohle und Öl kosteten Mitte 2022 so viel wie nie zuvor. Da Gas- und Strompreis in Deutschland aneinander gekoppelt sind, hat sich auch der Strompreis gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelt. Der Börsenstrompreis am Spotmarkt zeigte Preisspitzen von knapp 500 Euro pro Megawattstunde (€/MWh). Durch das hohe Preisniveau und die ohnehin angespannte wirtschaftliche Situation war vor allem die energieintensive Industrie gezwungen, ihre Produktion zurückzufahren. Dies zeigt der sinkende Produktionsindex der energieintensiven Industrie. Der Index stellt die Entwicklung der Produktionsmengen von energieintensiven Produkten – beispielsweise chemische Erzeugnisse, Stahl und Glas – dar. Die Produktion chemischer Erzeugnisse ist laut Produktionsindex im Laufe des Jahres um 20 Prozent gegenüber 2018 gesunken, ebenso die Herstellung von Glas oder Metallerzeugnissen. [2]

Kernannahme 1:

Reduktion der industriellen Stromnachfrage

Das hohe Energiepreisniveau verschärft die wirtschaftliche Situation energieintensiver Industriezweige und stellt den Industriestandort Deutschland zunehmend unter Druck. Das Szenario untersucht eine mögliche Abwanderung einzelner Produktionsprozesse, sofern keine politischen Abfederungsmaßnahmen greifen.

Kernannahme 2:

Verringerter EE-Ausbau

Die geminderte industrielle Stromnachfrage geht einher mit einer Reduktion der installierten EE-Leistung. Es wird eine reduzierte installierte Leistung an Onshore-Wind von 110 GW und an PV von 267 GW unterstellt.

Kernannahme 3:

Entfall der Elektrolyseur-Projekte ab 2030

Mögliche Verlagerungen der energieintensiven Industrie ins Ausland gehen einher mit einer reduzierten Nachfrage nach Wasserstoff. Zusätzlich ist aufgrund des hohen Strompreisniveaus die Wasserstoffelektrolyse in Deutschland weniger wirtschaftlich. Daher wird ein deutlich geringerer Ausbau an inländischen Kapazitäten von Elektrolyseuren unterstellt. Zudem wird ein weltweiter Wasserstoffmarkt angenommen.

Gleichzeitig stehen diese Wirtschaftszweige vor der großen Herausforderung, ihre Prozesse schrittweise auf klimaneutrale Energieträger auszurichten, die neben einem Brennstofftausch auch teilweise umfassende Anpassungen des Produktionsverfahrens bedeuten. Infolge der ohnehin angespannten wirtschaftlichen Ausgangslage vieler Industrieunternehmen und den steigenden Belastungen im Rahmen ihres Transformationsprozesses wird der Handlungsdruck zum Erhalt der Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland umso stärker.

Abwanderung energieintensiver Industrieprozesse

Diese Entwicklung wird in Szenario F der Robustheitsprüfung Klimaneutralitätsnetz untersucht. Zur Abbildung eines solchen Szenarios wurde unterstellt, dass das Strompreisniveau auch in den Folgejahren auf einem hohen Niveau liegt. Insbesondere in energieintensiven Industriezweigen wächst der Druck, weiterhin wirtschaftlich agieren und im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Die Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FfE) hat hierfür die zukünftige Entwicklung der industriellen Stromnachfrage untersucht. Dabei wurde die Abwanderung einiger energieintensiver Industrieprozesse in Deutschland angenommen. Ein klimaneutraler Industriesektor bis 2045 wurde vorausgesetzt.

Unter Berücksichtigung verschiedener Faktoren, wie etwa die Energieintensität der Produktionsprozesse sowie die Einbindung in die internationalen Wertschöpfungsketten, zeigen die Untersuchungen der FfE ein erhöhtes Abwanderungsrisiko insbesondere für die Grundstoffchemie, die Herstellung von Nichteisenmetallen (zum Beispiel Aluminiumherstellung) und die Metallerzeugung. Insgesamt wurden acht Industriezweige als besonders abwanderungsgefährdet identifiziert. In diesem Szenario wird unterstellt, dass Produktionsstandorte dieser Wirtschaftszweige in Deutschland teilweise abwandern. Das Ergebnis zeigt einen um 90 TWh geringeren Strombedarf gegenüber der Referenz B2045 im Jahr 2045. Damit sinkt die industrielle Stromnachfrage auf 293 TWh. Eine Veränderung der industriellen Nachfrage ist in der Untersuchung insbesondere in den Regionen Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, im Raum Hamburg sowie in der Mitte und im Osten Deutschlands erkennbar.

Moderater Ausbau an inländischer Elektrolyse-Leistung unterstellt

Aufgrund des unterstellten hohen Strompreisniveaus wird ein signifikant geringerer Ausbau inländischer Elektrolyse-Anlagen angenommen. Die Prämisse hierbei ist, dass mit Abwanderung energieintensiver Industrie auch der Aufbau einer innerdeutschen Wasserstofferzeugung weitgehend entfällt. Es wird angenommen, dass ab 2030 der Wasserstoffbedarf über Importe gedeckt wird. Dies führt zu einer starken Reduzierung der Elektrolyseleistung von 50 Gigawatt (GW) auf 12,5 GW im Vergleich zum Referenzszenario. Dies senkt den Bruttostromverbrauch nochmals um 165 TWh.

Geringerer Onshore-Wind-Ausbau in Norddeutschland und reduzierte Offshore-Leistung

Infolge der gesenkten Stromnachfrage wird ein geringerer Ausbau erneuerbarer Energien (EE) unterstellt. Sinkt der Strombedarf, reichen weniger EE-Kapazitäten aus, um diesen zu decken. Für Photovoltaik (PV) wird eine geminderte installierte Leistung von 267 GW unterstellt. Zudem geht der Onshore-Windausbau im Vergleich zu B2045 zurück, insbesondere in Norddeutschland. Die Anbindung der Offshore-Systeme nahe der Lastzentren in NRW und in Hessen dient maßgeblich der Versorgung der anliegenden Industrien. Im Zuge der industriellen Abwanderung wird daher ein Entfall von zwei Systemen unterstellt.
Dies entspricht einer Leistung von 4 GW Offshore-Wind.

Die Nord-Süd-Transportbedarf sinkt in der Spitze, steigt aber im Jahresdurchschnitt an

Infolge der Lastreduktion und einer veränderten Regionalisierung der erneuerbaren Energien zeigt sich ein Erzeugungsüberschuss im Norden Deutschlands von 149 TWh. Gleichzeitig ist im Süden Deutschlands ein Defizit von 160 TWh erkennbar.

Der Stromtransport aus dem windreichen Norden in die Lastzentren im Süden liegt in diesem Szenario bei rund 80 GW in der Spitze. Im Vergleich ist der Transportbedarf in der Spitze um 10 GW geringer als im Referenzszenario B2045. Im Mittel steigt die Nord-Süd-Transportaufgabe jedoch um 2,6 GW. Grund dafür sind insbesondere die wegfallenden Elektrolyse-Anlagen, die nicht länger den Strom aus erneuerbaren Energien im Norden direkt nutzen.

Auch mit sinkendem Redispatch-Bedarf zeigen Maßnahmen zur Versorgung der Lastzentren netztechnischen Nutzen

Auch mit sinkendem Redispatch-Bedarf zeigen Maßnahmen zur Versorgung der Lastzentren netztechnischen Nutzen

Die Reduktion der industriellen Stromnachfrage bei geringerem Ausbau der Onshore-Windkapazitäten in Norddeutschland sorgt für deutliche punktuelle Entlastungen im Übertragungsnetz. Im Vergleich zum Referenzszenario B2045 sinkt der Redispatch-Bedarf im Falle der hier unterstellten Lastreduktion um rund 0,8 TWh pro Jahr. Entlastungen zeigen sich insbesondere in Hessen sowie im Norden und Osten Deutschlands.

Fazit:

Das Klimaneutralitätsnetz des Netzentwicklungsplans 2037/2045 (2023) zeigt sich auch bei einer sinkenden Industrielast in Deutschland weiterhin robust.

Quellen:

Thomas Anderski
Experte Umfeldanalyse
Niklas Berg
Experte Systemanalyse
Lukas Beschow
Experte Systemanalyse
Marcel Gallus
Experte Systemanalyse
Birte Greve
Expertin Strategie
Lukas Groterhorst
Experte Umfeldanalyse
Alexander Lindner
Experte Systemanalyse
Miriam Sander
Expertin Planungsszenarien & Energiemarktmodellierung
Henry Hoffmann
Leiter Netzentwicklung
Thomas Dederichs
Leiter Strategie und Energiepolitik

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