Wie das Energiesystem mehr als die Summe seiner Teile werden muss.

Von Dr. Alexander Rentschler, Global Head of Technology & Innovation, Siemens Energy Transmission

Basierend auf dem „Net Zero by 2050“-Szenario der Internationalen Energieagentur (IEA) und dem daraus hervorgehenden Ziel, die globale Erwärmung zu begrenzen und ihre Auswirkung zu minimieren, ergibt sich eine nie dagewesene Herausforderung an unsere Energieversorgungsysteme. Die Reduzierung von fossilen Energieträgern ist beschlossen, der Ausbau der regenerativen Energieerzeugung nimmt bereits eine dominante Rolle im europäischen Energiesystem ein.

Während im vergangenen Jahrzehnt der Fokus vor allem darauf lag, konventionelle durch regenerative Erzeuger zu ersetzen, diese anzubinden und den Verbrauchern bereitzustellen, wird der aktuelle Diskurs zur Klimaneutralität von der Tatsache getrieben, dass sie die Dekarbonisierung aller Energieversorgungsformen – Gas, Strom und Wärme – erfordert. Zukünftig kann Klimaneutralität nur erreicht werden, wenn wir sektorübergreifend denken, agieren und dem Markt die entsprechenden Lösungen zur Verfügung stellen.

Dieses Zusammenspiel der verschiedenen Energiequellen zeigt das Eingangsbild, welches eine fundamentale Änderung im Vergleich zum heutigen Energieversorgungssystem darstellt. Dabei hat jeder Erzeuger bzw. Transportpfad seine Berechtigung und trägt zum Gelingen des Ganzen bei. Siemens Energy ist in allen Sektoren aktiv und kann somit die optimalen und integrierten Lösungen bereitstellen. Dabei sehen wir vier wesentliche Herausforderungen:

  • die Dekarbonisierung der Energiesystemkomponenten,
  • das Bedienen der höheren Energiebedarfe,
  • die Koordination und Steuerung der sehr komplexen Erzeuger- und Verbraucherstruktur,
  • die Erweiterung der Infrastruktur zur Anbindung aller Energieverbraucher und Energiequellen.
  • Integrierte, sektorübergreifende und verbindende Lösungen werden aus unserer Sicht die kostenoptimalen Lösungen darstellen.

Essenziell für ein Gelingen der Energiewende ist neben der sektorübergreifenden Betrachtung der Energieformen ein kontinuierlicher Austausch zwischen allen im Energiemarkt beteiligten Akteuren, von den politischen Ebenen, den Regulatoren, den Anwendern bis hin zu den Herstellern und Verbänden. Die von Amprion aufgesetzte Systemvision stellt dabei eine exzellente Plattform dar, um zunächst die vielfältigen Sichtweisen aller Beteiligten durch die verschiedenen Szenarien abzubilden. Dadurch wird erstmals eine unverwässerte Sicht der einzelnen Visionen abgebildet. Diese zeigt die diversen Zukunftsbilder, die in Einklang zu bringen sind.

Erste Kernannahme

Die Gesamtstromnachfrage wird fast verdoppelt und auf 1.006 TWh ansteigen – getrieben von E-Mobilität, einer verstärkten Elektrifizierung von Wärmeanwendungen und der Dekarbonisierung der Industrie.

Zweite Kernannahme

Windenergie und Photovoltaik liefern den wesentlichen Beitrag zur Abdeckung des gestiegenen Strombedarfs, Wasserkraft und Biomasse spielen eine untergeordnete Rolle.

Dritte Kernannahme

Die Wärmeerzeugung steigt auf 693 TWh im Jahr 2050.

Vierte Kernannahme

Die Wasserstoffnachfrage steigt auf 518 TWh. Aufgrund geringer inländischer Erzeugungskapazitäten muss Wasserstoff zu einem großen Teil importiert werden.

Strom als klassische Energieform

Die Modellierung unserer Systemvision für 2050 zeigt, dass sich die Gesamtstromnachfrage fast verdoppelt und auf 1.006 TWh ansteigt. Die Stromnachfrage wird im Wesentlichen durch den zunehmenden Einsatz von elektrisch angetriebenen Fahrzeugen, eine verstärkte Elektrifizierung von Wärmeanwendungen (Wärmepumpe und Elektroheizer) sowie einen steigenden Strombedarf der Industrie für Dekarbonisierung bestimmt. Darüber hinaus zeigt unsere Modellierung den Betrieb von Elektrolyseuren mit weiteren 102 TWh zur inländischen Wasserstofferzeugung.

Einen wesentlichen Beitrag zur Abdeckung des gestiegenen Strombedarfs liefern in unserer Modellierung die Windenergie als auch die Erzeugung von Energie mittels Photovoltaik. Wasserkraft und Biomasse als etablierte Technik spielen in unseren Ergebnissen eine untergeordnete Rolle. Gaskraftwerke leisten auch weiterhin einen Beitrag um, Stromengpässe zu verhindern und Übertragungsnetze kurzfristig zu stabilisieren. Die Nachrüstung auf CCS-Turbinen wurde exogen im Modell vorgegeben. Gasturbinen werden in unserer Betrachtung im Jahr 2050 allerdings nur zu sehr geringen Volllaststunden, zur Abdeckung von vereinzelten Spitzen, benötigt. In der Übergangsphase sind moderne Gasturbinen als Brückentechnologie ein wesentliches Element für eine sicherere, stabile und hochverfügbare Energieversorgung.

Wärmeerzeugung für Industrie und private Haushalte

Die Wärmeerzeugung für private Haushalte, Gewerbe, Handel und Dienstleistung sowie industrielle Nutzung steigt auf 693 TWh im Jahr 2050. Der Großteil der Wärmeerzeugung wird durch strombasierte Anwendungen wie Elektroheizer und Wärmepumpen, gefolgt von wasserstoffbasierten Anwendungen, gedeckt.

Wasserstoff gewinnt an Bedeutung

Im Jahr 2050 wird die Wasserstoffnachfrage (518 TWh) maßgeblich bestimmt durch die stoffliche Nutzung in Industrieprozessen (105 TWh) sowie durch die Verbrennung in Stromerzeugungstechnologien (313 TWh). Ein Großteil der benötigten Menge muss importiert werden. Möglichkeiten der Erzeugung sehen wir vor allem bei Offshore-Windparks. Ein kleiner Teil davon kann inländisch durch Elektrolyse erzeugt werden.

Energietransportnetze in Deutschland

Um Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen, ist ein ganzheitlicher Ansatz notwendig. Strom, Wärme und Wasserstoff spielen dabei zusammen und ermöglichen den Ausstieg aus der Atomenergie sowie die Reduzierung fossiler Energiequellen. Dabei gilt es bei der Stromerzeugung aus regenerativen Energiequellen die Fluktuation bei der Erzeugung als auch die Distanz zwischen Erzeugung und Verbraucher zu betrachten. Die Simulationsergebnisse zeigen, dass die Leitungskapazität des derzeit geplanten Netzausbaus (Netzentwicklungsplan 2035) nicht ausreicht und teilweise überschritten wird. Ein ähnliches Ergebnis zeigt sich auch bei den Piplines für den Wasserstofftransport.

Erforderliche Schritte zur Klimaneutralität:

Wie die Ergebnisse unserer Systemvision für 2050 zeigen, sind wir auf dem richtigen Kurs, um Klimaneutralität zu erreichen. Das Gelingen wird maßgeblich von folgenden Punkten abhängen:

1. Konsequenter Ausbau der regenerativen Energieerzeugung

Vor allem der Offshore-Wind-Bereich bietet dabei großes Potenzial. Der konsequente Ausbau von Erneuerbaren spielt auf dem Weg zur Klimaneutralität eine tragende Rolle, um den steigenden Strombedarf bis 2050 zu bedienen und die Energie für die Erzeugung von Wasserstoff und Wärme bereitzustellen.

2. Sicherstellen der Transportkapazität im Stromübertragungs- und Wasserstoffnetz

Die Ergebnisse der Studie zeigen Engstellen in den Bereichen Strom- und Wasserstoffübertragung auf. Um das bestehende Stromübertragungsnetz nicht zu überlasten, ist der Ausbau mit Gleichstromübertragungsverbindungen – den sogenannten DC-Links – notwendig.

3. Sicherstellen der Netzstabilität

Um die dynamische Stabilität und die Fluktuation der regenerativen Erzeugung zu beherrschen, sind an bestimmten Netzknotenpunkten Kompensationsanlagen und Netzspeicherelemente zu errichten.

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>>> Video-Interview: Dr. Alexander Rentschler zur Systemvision 2050

Der Autor:

Alexander Rentschler

Alexander Rentschler, Jahrgang 1974, ist Global Head of Technology & Innovation bei Siemens Energy Transmission, München, und Field of Action Lead Resilient Grids & Reliability. Er studierte Elektrotechnik an der TU Darmstadt und promovierte dort im Bereich Elektrische Energiewandlung. 2006 wechselte er zu Alstom Power Generation nach Mannheim, wo er als Lead Ingenieur und Teamleiter für Elektrische Eigenbedarfssysteme tätig war. Anschließend wechselte er Ende 2008 zur Siemens AG in das Dampfkraftwerkskompetenzzentrum und baute danach den Bereich Product Lifecycle Management in der Siemens Transmission Solutions auf, den er bis 2019 leitete. Seit 2020 ist er verantwortlich für die Technologiestrategie innerhalb der Division Transmission bei Siemens Energy.

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