143 Expertinnen und Experten haben an einer Umfrage in sozialen Medien teilgenommen und ihre Annahmen zu einem klimaneutralen Energiesystem mit uns geteilt. Wir haben sie durchgerechnet und geclustert – mit aufschlussreichen Ergebnissen.
Wie sieht das klimaneutrale Energiesystem der Zukunft aus Sicht der Fach-Community aus? Nachdem in unserem Projekt „Systemvision 2050“ zahlreiche Partner ihre eigene Systemvision dargestellt haben, sind wir dieser spannenden Frage nachgegangen. Ende April 2022 hat Amprion eine entsprechende Umfrage über soziale Medien gestartet, in der zehn der wichtigsten Parameter für das Energiesystem im Jahr 2045 abgefragt wurden. 143 User haben sich beteiligt. Ihnen danken wir an dieser Stelle vielmals!
Die Annahmen zur Nachfrageseite
Frage Nr. 1 betrifft die Stromnachfrage in einem künftigen Energiesystem. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Umfrage – im Folgenden als „Community“ bezeichnet – erwarten hier weit überwiegend eine anhaltende Elektrifizierung: Die Nachfrage nach Elektrizität steigt von heute 550 auf durchschnittlich 1200 Terawattstunden (TWh) – was mehr als einer Verdopplung entspricht. Gründe für die hohe Nachfrage dürften insbesondere eine unterstellte hohe Marktdurchdringung mit Wärmepumpen sein ( Frage Nr. 3 ) sowie ein hoher Anteil an E-Kraftfahrzeugen im Bestand ( Frage Nr. 4 ).
- Die Community erwartet mehrheitlich eine anhaltende Elektrifizierung: Die Nachfrage nach Elektrizität steigt von heute 550 TWh auf im Mittel 1200 TWh deutlich
- Entgegen den aktuellen Diskussionen um „Sanierungsrate“ und „Effizienz“ unterstellt die Community einen weiterhin hohen Bedarf an Raumwärme
- Wind- und Solarenergie wird deutlich ausgebaut, wobei es hier verschiedene Sichtweisen gibt – die Community ist hier uneins
- Gleiches gilt für die gesicherte Kraftwerksleistung, Batteriespeicher und die Nutzung grünen Wasserstoffes – die Bandbreite der Antworten ist relativ groß
Besonders spannend sind die Einschätzungen zu Frage Nr. 2 , die sich mit dem Wärmesektor beschäftigt: Während in den aktuellen Energiesystem-Studien und in der politischen Diskussion die Themen „Sanierungsrate“ und „Effizienz“ allgegenwärtig sind und häufig sehr ambitionierte Ziele diskutiert werden, glaubt die Community nicht an eine deutliche Dynamisierung und erwartet einen weiterhin hohen Bedarf an Raumwärme: Mehr als 40 Prozent der Befragten haben mit 600 TWh die größtmögliche Antwort geklickt, an eine Senkung auf 250 TWh glauben dagegen nur weniger als fünf Prozent.
Die Annahmen zur Angebotsseite
Ein gutes Drittel der Community erwartet den Ausbau der Windenergie in Deutschland ( Frage 5 ) auf den maximal möglichen Wert von mindestens 220 GW Leistung – an Land und auf See. Stand 2022 liegen wir bei knapp 65 GW. Bei der Solarenergie ( Frage 6 ) folgt die Mehrzahl nicht der optimistischsten Annahme von 450 GW, sondern setzt das Kreuz etwas zurückhaltender – bei immerhin noch 350 GW. Das entspricht etwa einer Versechsfachung der Leistung gegenüber heute.
Die gesicherte Leistung durch Gaskraftwerke wurde in Frage 7 abgefragt. Dabei streuen die Antworten über alle Antwortmöglichkeiten zwischen 20 und 80 GW Leistung, wobei die Mehrheit der Community 35 GW annimmt. Frage 8 adressierte den Anteil an grünem Wasserstoff bei der Erzeugung in diesen Gaskraftwerken. Auch dort sind die Antworten breit gefächert. Aus Sicht der Community ist damit noch sehr unsicher, ob künftig grüner Wasserstoff oder synthetisches Methan verbrannt wird. Denkbar wäre auch die Verbrennung fossilen Methans, aber das würde für die Klimaneutralität einen geschlossenen CO2-Kreislauf erfordern, etwa durch die Ausrüstung der Kraftwerke mit Carbon Capture and Usage bzw. Storage (CCUS). Diese Option wurde in der Umfrage nicht erfasst.
Unentschlossen ist die Community offenbar auch bei der erwarteten Leistung von Batteriespeichern ( Frage 9 ). Angesichts des immer noch recht niedrigen Entwicklungsstands im großtechnischen Bereich ist das nicht verwunderlich. Beinahe gleich viele Stimmen bekamen die Werte 20 und 100 GW installierter Leistung.
Schließlich hat die Community in der zehnten und letzten Frage für 2045 einen „hohen“ Grad beim Ausbau des Stromnetzes angenommen. Das ist mehr als „moderat“ und weniger als „sehr hoch“. Dieser rein qualitative Wert muss in Leitungskilometer übersetzt werden. Wir haben uns erlaubt, dafür einen Aufschlag in Höhe von 25 Prozent gegenüber den derzeitigen Planungen des Netzentwicklungsplans Strom, die bis zum Jahr 2040 reichen, anzunehmen.
Wie lassen sich die Annahmen clustern?
Unser wissenschaftlicher Partner, die Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FfE), hat die gesammelten Antworten mittels einer Cluster-Analyse in einem ersten Schritt zu sechs Gruppen zusammengefasst. Innerhalb jeder dieser Gruppen waren die angeklickten Szenarien relativ ähnlich – die Teilnehmer der Gruppen haben also die zehn Fragen des Fragebogens ähnlich beantwortet. Durch dieses Vorgehen kristallisieren sich verschiedene „Mindsets“ heraus. Dabei ist klar, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Umfrage keine repräsentative Grundgesamtheit darstellen und die Art der Abfrage nicht unter streng wissenschaftlichen Aspekten erfolgt ist. Die getroffenen Annahmen und Ergebnisse sind gleichwohl sehr interessant und aufschlussreich.
Mit 35 Prozent der Teilnehmenden repräsentiert das Cluster 5, von uns „Elektrifizierung“ getauft, die größte Gruppe. Dort ist die Stromnachfrage im Vergleich am höchsten, Wind und Photovoltaik (PV) werden sehr stark ausgebaut und Batteriespeicher und Demand Side Management werden in diesem Szenario am stärksten genutzt. Der Raumwärmebedarf ist eher gering, ebenso die installierte Leistung an Gaskraftwerken, die zu 82 Prozent H2-ready sind.
Zum Cluster 2 „Suffizienz“ gehören zwar nur zwei Teilnehmende, es stellt aber ein sehr interessantes Gegenmodell zu den übrigen Szenarien dar. Er zeichnet sich durch eine relativ geringe Stromnachfrage und eine extrem niedrige Raumwärme-Nachfrage aus. Windenergie wird hier am schwächsten ausgebaut, Solarenergie hingegen am stärksten. Weiterhin gibt es mit 50 GW einen großen Block an Gaskraftwerken die zu 100% H2-ready sind. Batterien und Demand Side Management werden fast so stark eingesetzt wie im Elektrifizierungs-Szenario. Der Anteil an Wärmepumpen und E-Mobilität ist mit 50 respektive 60 Prozent im Vergleich am geringsten – ein Indiz, dass diese kleine Gruppe dem disruptiven Umbau des Energiesystems kritisch gegenübersteht. Beim Wasserstoff scheint die Skepsis dagegen nicht so groß zu sein.
Im Cluster 6 „Konservativ“ ist der Raumwärmebedarf am höchsten, alle weiteren Parameter wurden sehr zurückhaltend eingeordnet. Insbesondere der Hochlauf bei Wärmepumpen und Wasserstoff werden hier sehr kritisch gesehen.
Ergebnisse der Cluster-Analyse
Der Blick auf die installierten Kapazitäten zeigt noch einmal recht anschaulich, dass das Szenario des konservativen Clusters gar nicht so sehr vom Status Quo abweicht. Die beiden anderen Cluster-Szenarien sind in dieser Hinsicht mit sehr viel installierter PV-Leistung deutlich progressiver.
Im konservativen Szenario wird deutlich weniger Strom produziert und dieser zudem nur zu einem geringen Anteil aus Wind und PV. Woher kommt der übrige Strom? Während die beiden progressiven Szenarien mit etwa 68 TWh („Elektrifizierung“) und 44 TWh („Suffizienz“) an Stromimporten auskommen, werden im konservativen Szenario mehr als 240 TWh aus dem europäischen Ausland importiert. Entsprechend müssen die Leitungen für den inländischen Stromtransport im Vergleich zum „Suffizienz“-Szenario um zusätzliche 30 GW Leistung ausgebaut werden.
Hier gelingt es im Szenario „Elektrifizierung“, den Energiebedarf fast vollständig durch Strom zu decken („Power to heat“). Das konservative Szenario deckt die hohe Wärmenachfrage durch den Einsatz von Wasserstoff in KWK-Anlagen und Etagenheizungen, wofür Wasserstoff zudem noch zu Methan synthetisiert werden muss – denn am Ende muss auch dieses Szenario klimaneutral sein!
Interessant ist auch der Blick auf die Herkunft des Wasserstoffs. Hier zeigt sich, dass trotz hohem EE-Ausbau kein Szenario wirklich eine hohe Autarkie erreicht. Das Szenario „Elektrifizierung“ schafft immerhin 22 Prozent Eigenfertigung mit heimischen Elektrolyseuren. Dem steht wiederum das konservative Szenario gegenüber, in dem der Wasserstoff – der Bedarf ist wegen des kaum elektrifizierten Mobilitätssektors am höchsten – vollständig importiert werden muss.
Unser Fazit
Die spannendste Erkenntnis zur Zukunft des Energiesystems findet sich möglicherweise beim Thema Wasserstoff: Wir sehen, dass eine geringere Energieeffizienz und eine geringere Elektrifizierung zu einem höheren Wasserstoffbedarf führen. Wollen wir den Wasserstoff nicht vollständig importieren, benötigen wir sehr große Mengen an erneuerbaren Energien, auch weil sich die Energieeffizienz erfahrungsgemäß nicht beliebig steigern lässt. Umgekehrt bedeutet das: Wir können uns für Wasserstoffimporte entscheiden. Hier sollten im Rahmen einer gesellschaftlichen Grundsatzdebatte die Themen Versorgungssicherheit, Flächenknappheit und Ressourcenverfügbarkeit sorgsam abgewogen werden.
Eine weitere Erkenntnis betrifft die aktuelle Diskussion darüber, ob das Energiesystem der Zukunft angesichts des wachsenden Zeitdrucks zunächst granular geplant werden sollte, um keine Ressourcen zu verschwenden – oder ob wir zügig in die Umsetzung gehen und das Risiko fehlgeleiteter Ressourcen eingehen sollten. Die Meinung der Fach-Community gibt hier eine Teilantwort: Zumindest die Verdoppelung von Windenergie und PV scheint eine robuste Strategie zu sein, denn die von ihnen erzeugten Kilowattstunden werden in jedem Szenario benötigt, das Risiko von erneuerbarem „Überschussstrom“ scheint äußerst gering zu sein. Das sollten wir auf dem Weg in die Klimaneutralität und in eine Zukunft mit hoher Versorgungssicherheit als Chance begreifen.