Weniger Energiehunger für mehr Nachhaltigkeit. Welche Weichen wir für eine dekarbonisierte Gesellschaft stellen müssen.

Von Nadine Bethge, Stellvertretende Bereichsleiterin Energie & Klimaschutz, Deutsche Umwelthilfe e.V.

Ich wurde Anfang März 2021 von Amprion gefragt, ob ich „meine“ Systemvision 2050 erstellt haben möchte. Spannend! Meine eigene Vision der Energiewelt für 2050, ich darf mir die Welt basteln, wie sie mir gefällt. Pippi Langstrumpf at its best!?

Das Diagramm zeigt die Anteile der Stromerzeugung in Deutschland. Vergleich 2020 und 2050.

Natürlich wollte ich das und stürzte mich in das kleine Abenteuer von Annahmen und Ausgangsparametern, Modellierungen und Bewertungen. Seit langem fordere ich von den Übertragungsnetzbetreibern ein Zielnetz mit 100% Erneuerbaren Energien, damit die Debatten um den Stromnetzausbau ehrlicher und transparenter werden und die vielfach bemängelte „Salami-Taktik“ – mit jedem Netzentwicklungsplan neue Trassenkilometer – ein Ende findet. Nun durfte ich selbst ran.

Mein Fokus: Erneuerbare Vollversorgung

Essentiell war und ist für mich die Vollversorgung aus Erneuerbaren Energien, Wind und Sonne werden für mich die tragenden Säulen der Energiewende. Und Vollversorgung heißt in dem Fall auch, dass Industrie, Wärme und Verkehr durch Erneuerbare „angetrieben“ und somit elektrisch werden. Dadurch verdoppelt sich meine Gesamtstromnachfrage im Vergleich zu 2020 auf ca. 1.060 TWh. Der größte Anteil der Stromnachfrage kommt aus der Industrie, gefolgt von den Haushalten, Gewerbe, Handel & Dienstleistungen sowie Power-to-Heat in Form von Elektroheizern und Wärmepumpen.

Um diese Erzeugungsleistung erneuerbar generieren zu können, muss ich in Deutschland folgende Kapazitäten bis 2050 ausbauen: 150 GW Wind Onshore (heute1 54 GW), 60 GW Wind Offshore (heute 8 GW), 200 GW Photovoltaik auf die Dächer und 78 GW Photovoltaik Freifläche (heute zusammen 51 GW). Biomasse ist mit 5 GW leicht rückläufig zu heute, Wasserkraft bleibt mit 3,5 GW Leistung stabil.

Wo kommen all die Flächen her?

Die größte Herausforderung ist die steigende Flächeninanspruchnahme, die es für diese erneuerbare Erzeugung braucht. Meine Vision ist es, alles innerdeutsch zu erzeugen. Denn das was wir für unseren Wohlstand und Wirtschaftsstandort benötigen, sollten wir selber stemmen und unsere Bedürfnisse nicht über die Grenzen verlagern, so mein Maßstab. Leider kann mir das Modell nicht errechnen, welchen Flächenverbrauch meine Annahmen nach sich ziehen. Grob geschätzt kann man aber sagen, dass ich in 2050 dreimal so viel Windenergieflächen Onshore, die achtfache Fläche für Offshore und fast die sechsfache Fläche für Solarenergie benötige. Schaut man noch auf die Effizienz der Anlagen, so lässt sich hoffen, dass der Flächenbedarf insgesamt geringer ausfällt, aber letztlich enorm sein wird. Fläche ist die Währung der Energiewende!

Erste Kernannahme

Gesamtstromnachfrage verdoppelt sich 2050 im Vergleich zu 2020 auf 1.060 TWh pro Jahr.

Zweite Kernannahme

Die Erzeugungskapazitäten entwickeln sich bis 2050 wie folgt: 150 GW Wind Onshore (heute 54 GW), 60 GW Wind Offshore (heute 8 GW), 200 GW Photovoltaik auf die Dächer und 78 GW Photovoltaik Freifläche (heute zusammen 51 GW). Biomasse ist mit 5 GW leicht rückläufig zu heute, Wasserkraft bleibt mit 3,5 GW Leistung stabil.

Dritte Kernannahme

24 Mio. Elektrofahrzeuge sind in Deutschland 2050 zugelassen.

Vierte Kernannahme

Die Wasserstoffnachfrage könnte bis 2050 auf 524 TWh steigen.

Das Diagramm zeigt die Methanherkunft und Methanverwendung in Deutschland, wie im Text beschrieben.

Meine „grüne“ industrialisierte Welt

Die Methannachfrage in meiner Systemvision ist gering, ein Viertel der heutigen Nachfrage. 93 TWh grünes Methan muss ich EU-weit importieren, 51 TWh kommen aus Biogasanlagen. 63 TWh zur Deckung des dezentralen Raumwärmebedarfs kommen aus Gas-Methan KWK. Es ist alles erneuerbar, aber ohne die europäischen Nachbarstaaten nicht machbar. Deutsche Energiewende geht nur Hand in Hand mit der europäischen Energiewende. Eine nicht ganz neue Erkenntnis, bestärkt jedoch die Notwendigkeit von leistungsfähigen Stromnetzen und Interkonnektoren: Sie sind substanziell für Energiewende und Klimaschutz.

Bei der Dekarbonisierung der Industrie, die über grünen Wasserstoff realisiert werden soll, stoße ich mit meiner innerdeutschen Erzeugung an die nächste Grenze. Grüner Wasserstoff bedeutet mehr erneuerbare Energien, Zusätzlichkeit ist hier das Stichwort. Das ESMA-Tool von Amprion errechnet mir eine Wasserstoffnachfrage von 524 TWh, wobei ich nur 32 TWh in Deutschland erzeugen kann! Und diese innerdeutsche Elektrolyseleistung braucht großen Input an Erneuerbaren Energien. Ich benötige grünen Wasserstoff für Gaskraftwerke, Wasserstoffbrenner, stoffliche Bedarfe in der Industrie sowie für einige wenige Brennstoffzellen in PKW und LKW.

Um grünen Wasserstoff in Deutschland nutzen zu können, muss dieser in Ländern auf der ganzen Welt produziert werden. Wir benötigen wenige europäische Pipelines, aber dann große Wasserstoff-Terminals an den Küsten. Aber ist das nicht eine Form des Neokolonialismus? Um unseren „Energiehunger“ zu stillen, kaufen wir auf den Weltmärkten ein, stehlen dem ein oder anderen Land die Entwicklungsperspektive, denn wir haben das Geld, um die Energie einzukaufen bzw. sogar weg zu kaufen. Ist das eine gerechte Energiewende? Nein. So hatte ich mir meine Welt 2050 nicht vorgestellt.

Mein Fazit: Switch im Kopf und im Handeln – JETZT!

Die grüne, erneuerbare Welt ist nicht machbar, wenn wir weiter unseren gigantischen Energiehunger ausleben. Wir müssen umswitchen im Kopf und uns bewusstmachen, Effizienz und Suffizienz konsequent zu leben.

Ich habe eine hohe Sanierungsrate angenommen. Es reicht anscheinend nicht aus, meine strombasierte Wärmeerzeugung liegt noch immer bei ca. 700 TWh. Hier muss ich einsparen: mehr sanieren, besser dämmen, effizienter heizen, echte Passivhäuser bauen! Bestimmt sind auch harte Einschnitte wie weniger Wohnfläche pro Kopf Dinge, die wir in Zukunft berücksichtigen müssen.

Ich habe ca. 34 Mio. meist elektrisch betriebene PKW in meiner Systemvision zugelassen. In Zukunft werden wir diese Menge an Individualverkehr schlichtweg nicht zulassen können. Der ÖPNV muss ganz klar für die Mobilitätswende in den Fokus kommen.

Wo kann die Industrie ihre Prozesse effizienter machen? Wo braucht es ggf. Forschung und Entwicklung? Wie kann die Nachfrage nach Strom, Wasserstoff und Methan minimiert/halbiert werden? Hier braucht es transparente Diskurse und ehrliche Antworten aus der Wirtschaft, um auch die Politik zu befähigen, Entscheidungen für die nahe Zukunft treffen zu können.

Ausstieg aus der fossilen Gaserzeugung, 100% Erneuerbare Energien, effizientere Industrieprozesse und Maschinen, kluge Haushaltsgeräte und Transportmittel, kurze Wege für Lebensmittel und Waren, all dies sind Stichworte, aber Teil meiner Systemvision 2050. Da wir im gleichen Atemzug unsere Natur und die biologische Vielfalt erhalten wollen und müssen und Nachhaltigkeit als die Priorität definieren, dürfen wir eins nicht vergessen. Wir müssen die Menschen befähigen, all diese Schritte nachzuvollziehen, Entscheidungen transparent herbeiführen und Herausforderungen gemeinschaftlich angehen. Das „Ob“ steht nicht mehr zur Debatte, das konsequente und klare „Wie“ muss in der Gesellschaft ankommen.

Mit dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutzgesetz braucht es sofort eine Neuauflage des Prozesses: Systemvision 2045 und dieses Mal gern mit der Beschreibung des notwendigen Pfads! Ich wäre wieder dabei.

Für mich persönlich macht sich etwas Ernüchterung breit: Ein Zielnetz basierend auf 100% Erneuerbaren Energien ist schon schwer, den gesamten Energiebedarf erneuerbar zu decken ist die größere Herausforderung. Dies bedeutet aber nicht, den Kopf in den Sand zu stecken. Es heißt das Gegenteil: Wir brauchen alle schlauen Köpfe und alle fleißigen Hände, um die Transformation zu pushen und die in Paris gesteckten Klimaziele zu erreichen!

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1  Statista.com | Installierte Leistung Erneuerbarer Energien in Deutschland nach Energieträger im Jahr 2021 | (PayWall) | Stand 28.01.2021

Die Autorin:

Nadine Bethge

Nadine Bethge ist Dipl.-Ing. Landschaftsplanung. Seit 2013 ist sie bei der Deutschen Umwelthilfe (DUH) beschäftigt, begleitete und moderierte die Bürgerdialoge zum Stromnetzausbau in Niedersachsen, Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein. Sie leitete fünf Jahre den Bereich Bürgerkommunikation und -veranstaltungen beim „Bürgerdialog Stromnetz“, einer Initiative des BMWi.

Seit 2019 ist Frau Bethge Stellvertretende Bereichsleiterin Energie & Klimaschutz der DUH und arbeitet vorrangig zu Energieinfrastrukturen und deren Planung.

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