Langfristig läuft Klimaschutz darauf hinaus, die Energieversorgung vollständig treibhausgasneutral auszugestalten. Mit dem Green Deal und der Anpassung des deutschen Klimaschutzgesetzes wird der Zeitraum der notwendigen Transformation konkretisiert. Was also muss in den kommenden 25 bis 30 Jahren passieren? Wieviel Energie braucht Deutschland 2050? Welche Rolle spielen Strom und Wasserstoff? Welche Netze sind dafür erforderlich?
Als regional aufgestellte IHK-Organisation mit Unternehmen aller Branchen als Mitgliedern wissen wir, wie unterschiedlich die Perspektiven auf die Energiewende und die damit verbundenen Interessenlagen sind. Die Teilnahme am Projekt Systemvision 2050 war für uns nicht nur Gelegenheit, die aus dem breiten Meinungsspektrum abgeleiteten eigenen Annahmen für die künftige Ausgestaltung von Energieversorgung und -nachfrage im Rahmen der Modellierung zu überprüfen. Sie ermöglichte auch – das macht das Projekt von Amprion so spannend –, unsere Herangehensweise mit den Annahmen und Modellierungsergebnissen der anderen Teilnehmer zu vergleichen.
Für unsere Modellierung haben wir eine Reihe von Annahmen getroffen, die zugleich Anforderungen an die Ausgestaltung eines tragfähigen Energiesystems sind. Dazu gehört das Ziel, dass Deutschland Industrieland bleibt. Dies bringen wir in unserem Modell darüber zum Ausdruck, dass der Strombedarf der Industrie trotz aller Effizienzsteigerungen hoch bleibt und ein hoher Bedarf von Wasserstoff für die stoffliche Nutzung besteht. Hinzu kommt die Annahme, dass Deutschland auch 2050 stark in den internationalen Handel eingebunden sein wird, also Teil einer offenen Weltwirtschaft ist. Auf das Modell übersetzt haben wir den Import von Wasserstoff zu vergleichsweise günstigen Preisen und eine hohe Kapazität der Interkonnektoren im europäischen Stromnetz angenommen. Die für den Ausbau erneuerbarer Energien verfügbaren Flächen sind begrenzt oder unterliegen Nutzungskonkurrenzen und Akzeptanzproblemen. Das spiegelt sich bei unseren Annahmen in einem zwar hohen, aber machbaren Ausbau erneuerbarer Energien und in einer Verschiebung der Gewichtung in Richtung Offshore-Windkraftwider. Außerdem sind wir auf Basis der EU-Vorgaben und der Marktentwicklung davon ausgegangen, dass Autos 2050 nahezu komplett elektrisch mit Batterien oder mit Brennstoffzellen fahren.
Auf Grundlage unserer Kernannahmen ergibt sich ein sehr aufschlussreiches Bild: Trotz des umfangreichen Ausbaus erneuerbarer Energien reicht die erzeugte Energiemenge nicht aus, um die künftige Nachfrage zu decken. Anders als heute wird Deutschland zum Nettostromimporteur. Die Bilanz aus Ex- und Importen ergibt eine Deckungslücke von 11 TWh, wobei über das Jahr in Summe rund 50 TWh nach Deutschland importiert werden. Hinzu kommen weitere Energieimporte, allerdings nicht mehr in Form von Öl und Gas, sondern als grüner Wasserstoff.
Deutschland bleibt Industrieland. Der Strombedarf der Industrie ist hoch (322 TWh). Wasserstoff spielt für die stoffliche Nutzung eine wichtige Rolle (105 TWh).
Offene Volkswirtschaft: Deutschland bleibt auf den Import von Energie angewiesen. Wasserstoff kann zu relativ günstigen Preisen importiert werden. Die Kapazität der Strom-Interkonnektoren ist nur wenig höher als die aktuell für 2040 geplanten Kapazitäten (NEP 2040 * 1,1). Die einheitliche Strompreiszone in Deutschland bleibt erhalten.
Flächenrestriktionen für den Erneuerbaren-Ausbau: Es erfolgt ein umfangreicher Ausbau (Wind Onshore 85 GW, PV-Dach 126 GW, PV-Freifläche 93 GW), insbesondere im Bereich Offshore (70 GW).
Versorgungssicherheit: hohe gesicherte Leistung von H2-Turbinen (55 GW).
In der Modellrechnung ergibt sich ein Import von Wasserstoff im Umfang von 753 TWh. Das heißt im Ergebnis, dass die Importquote bei Energieträgern von heute etwa 70 auf 43 Prozent sinkt. Damit der vorwiegend importierte Wasserstoff in ganz Deutschland verfügbar ist, bedarf es einer entsprechenden Netzstruktur. Das Modell sieht hier eine Wasserstoffachse vor, die von Niedersachsen über Nordrhein-Westfalen nach Süddeutschland führt.
Geringer als von uns erwartet fällt die Erzeugung von Wasserstoff in Deutschland aus. Zwar ergibt sich im Modell eine Kapazität von immerhin 20 GW Leistung an Wasserstoff-Elektrolyseuren. Diese laufen aber nur rund 900 Volllaststunden im Jahr. Verwendet wird der importierte und hier erzeugte Wasserstoff (insgesamt 766 TWh) überwiegend zur Stromerzeugung und damit zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit. Etwa 100 TWh werden in der Industrie für stoffliche Zwecke genutzt. Für die Wärmeversorgung von Gebäuden, in der Fernwärme, aber auch in der Industrie übernehmen Wärmepumpen eine zentrale Rolle. Sie erzeugen 236 TWh thermische Wärme unter Nutzung von knapp 100 TWh Strom.
Dies sind die Ergebnisse auf Grundlage der von uns getroffenen Annahmen. Ergänzt haben wir diese Variante um ein Nebenszenario, in dem wir von einem europäischen Stromnetz nahezu ohne Restriktionen ausgegangen sind. Die Kapazität der Interkonnektoren beträgt dort das 1,5-fache des NEP 2035. Diese Annahmen führen zu einem deutlich anderen Ergebnis als im Hauptszenario: In 2050 ergibt sich ein höherer Nettostromimport von 235 TWh und eine deutlich geringere Wasserstoffnachfrage (320 TWh). Es erscheint uns allerdings fraglich, ob der europäische Kraftwerkspark diese hohen Importmengen erzeugen kann und ob sich der Stromnetzausbau bis 2050 im erforderlichen Maße umsetzen lässt. Im Ergebnis sind wir daher beim Hauptszenario geblieben, in dem sich die Energienachfrage deutlich stärker auf importierten Wasserstoff richtet. Bestand hat allerdings die Botschaft, dass der Ausbau des europäischen Stromnetzes eine Grundvoraussetzung für einen effektiven und effizienten Klimaschutz ist.
Die Autoren:
Till Bullmann
Till Bullmann hat in Heidelberg, den USA und Frankreich Politikwissenschaft und Volkswirtschaft studiert. Bis 2014 betreute er die energiepolitische Kommunikation eines regionalen Energieversorgers. Seitdem ist er als Leiter Wärmemarkt und Kraftstoffe für den DIHK in Berlin tätig. Schwerpunkte sind die Energiewende in Wärme und Mobilität sowie aktuell vor allem das Thema Wasserstoff.
Jakob Flechtner
Jakob Flechtner hat in Münster und Berlin Volkswirtschaftslehre und in Paris Internationale Beziehungen studiert. Anschließend hat er mehrere Jahre das Büro eines Europaabgeordneten in Brüssel geleitet. Seit 2011 ist er als Referatsleiter für den DIHK tätig, zunächst in Brüssel für europäisches Umweltrecht und seit 2013 in Berlin für Energie- und inzwischen für Klimapolitik. Ein Schwerpunkt seiner Arbeit liegt im Bereich des betrieblichen Klima- und Umweltschutzes.