Das Ergebnis der WWF-Systemvision 2050 ist ein weiterer Baustein in einer Reihe von WWF-Szenarien, die das zukünftige Energiesystem ausgehend vom Ziel gedacht haben. Dafür hat der WWF mit dem „Modell Deutschland"1 früh den Grundstein gelegt. Auch die Folgestudien „Zukunft Stromsystem“ in der ersten2 und zweiten3 Version griffen diese Leitgedanken auf. Die jüngsten IPCC-Berichte unterstreichen die Dringlichkeit, mit der die Transformation des Energiesystems umgesetzt werden muss, um die Klimakrise einzudämmen. Hinzu kommt eine Neuordnung der Sicherheitsarchitektur in Europa mit weitreichenden Implikationen für die Energieversorgung in Deutschland. Wir bedanken uns bei Amprion für die Möglichkeit, diese enormen Herausforderungen auf Basis unserer Überlegungen in einer aktuellen Systemvision zu berücksichtigen.
Bei der Anfertigung der Systemvision war uns wichtig, out of the box zu denken. Deutschland steht mit Blick auf seinen ökologischen Fußabdruck in der Verantwortung, hiesige Potenziale zu erkennen sowie diese weitestgehend zu erschließen. Darüber hinaus müssen weitere Minderungsmaßnahmen durch internationale Klimafinanzierung4 umgesetzt werden, um wieder auf den 1,5-Grad-Pfad zu gelangen. Wir haben die Systemvision somit auch als Möglichkeit verstanden, die Grenzen des Systems auszuloten, Maxima zu parametrisieren und entsprechende Auswirkungen auf Infrastrukturbedarfe sichtbar zu machen.
Umfangreiche Elektrifizierung aller Nachfrage-Sektoren
In unserer Energiewelt 2050 sind die Anwendungen weitgehend elektrifiziert. Die Stromerzeugung basiert auf den Technologiegewinnern: Photovoltaik und Windkraft.5 Unsere Systemvision zeigt, dass sich die Stromerzeugung etwa verdreifacht und ein Niveau von 1.680 Terawattstunden (TWh) erreicht. Zum einen sehen wir eine starke Durchdringung elektrischer Anwendungen im Verkehrssektor. Der Personen- und Güterverkehr soll zu einem hohen Anteil auf die Schiene verlagert werden.6 Der PKW-Bestand fährt vollständig batterieelektrisch. Ebenso setzen wir auf direktelektrisch betriebene LKW mit Ausnahme eines geringen Restbestands von FCEV-Fahrzeugen.7,8 Für den Gebäudesektor haben wir eine Verdoppelung der Sanierungsrate veranschlagt. Die Wärmeversorgung wird zu einem Anteil von etwa zwei Dritteln durch Wärmepumpen und einem Drittel Fernwärme bereitgestellt.9
Große Anteile der Stromnachfrage entfallen auf die Industrie (400TWh), die Haushalte (170 TWh), Power-to-Heat-Anwendungen (etwa 280 TWh) sowie die Elektrolyse (etwa 350 TWh). Zeitgleich bleibt Deutschland Nettoexporteur in der Stromhandelsbilanz (194 TWh).
Photovoltaik entlang der Potentialgrenzen
Mit einer Stromerzeugung von 745 TWh kommt der Photovoltaik (PV) eine tragende Rolle zu. Angelehnt an die Fraunhofer ISE Potentialstudie10 haben wir für die gebäudeintegrierte PV eine installierte Leistung von 850 Gigawattpeak (GWp) veranschlagt, bei Freiflächenanlagen hingegen 100 GWp. Das enorme Ausbaupotenzial im urbanen Raum, die immense Kostendegression für PV-Anlagen11, Anliegen des Naturschutzes sowie die steigende Flächenkonkurrenz begründen aus unserer Sicht, warum versiegelte Flächen für den Ausbau prioritär genutzt werden sollten.12 Hierauf sollte sich auch der Fokus der Politikmaßnahmen richten, etwa mit Blick auf die Pflicht zur Installation von PV-Anlagen bei Neubau und im Rahmen umfassender Dachsanierungen – für öffentliche, private wie auch gewerbliche Bauten. Auch der Bestand sollte eine tragende Rolle spielen, um den vorgegeben Elektrifizierungsgrad im Wärmesektor zu erreichen. Dazu gilt es, die Installation von PV-Anlagen zu entbürokratisieren, Mieter:innen-Strommodelle weiterzuentwickeln, die Wirtschaftlichkeit der PV sicherzustellen und die Digitalisierung im Gebäudebestand voranzutreiben. Die Energiewende ist auch eine Landnutzungswende. Deshalb sollte die Installation von PV-Anlagen in der Freifläche räumlich gut gesteuert werden und mit ökologischen Verbesserungsmaßnahmen einhergehen – beispielsweise durch die Extensivierung der Landwirtschaft.
Windenergie an Land stärker ausbauen
Um das Ziel einer vollständig erneuerbaren Stromerzeugung im Jahr 2035 zu erreichen, ist die Windenergie in unserem Szenario die zweite tragende Säule. Die Potenziale der Windenergie an Land sollten ausgeschöpft werden, um höhere Benutzungsstunden an Binnenlandstandorten einzubeziehen sowie den Vorteil einer gleichmäßigeren und systemdienlicheren Stromerzeugung auszunutzen. In unserem Szenario ist eine Kapazität von 180 Gigawatt (GW) installiert.13,14 Auch aufgrund unterschiedlicher Anlagenkonfigurationen, die sich aus der jeweiligen Standortgüte ergeben, gilt es, die Flächenbedarfe entsprechend größer zu dimensionieren und perspektivisch einen Wert von 2,5 Prozent anzusetzen.15 Für die Windenergie auf See ist ein starker Ausbau vorgesehen. Dies greifen wir in unserer Systemvision auf und tragen damit der Relevanz der Offshore-Windenergie für das Erreichen von Netto-Null-Emissionen im Stromsektor Rechnung. Dabei ist wichtig, dass der Ausbau naturverträglich erfolgt, indem der sehr schlechte Umweltzustand der Meere durch die Minimierung bereits existierender Belastungen verbessert wird, sowie Realkompensationsmaßnahmen umgesetzt und ein kontinuierliches Monitoring etabliert werden. Schutzgebiete dürfen nicht bebaut werden.
Ausbau der erneuerbaren Energien entfesseln
Die Klimakrise verschärft sich zusehends und auch geopolitisch braucht es zügig mehr Unabhängigkeit von importierten fossilen Energieträgern. In unserem Szenario testen wir die Potenzialgrenzen für den Ausbau von Windenergie und Photovoltaik.
Weitestgehende Elektrifizierung der Nachfragesektoren
Strom aus erneuerbaren Energien ist die tragende Säule in allen Anwendungsbereichen: im fossilfreien Energiesektor, in der Gebäudewärme, im Verkehrssektor und bei Industrieprozessen.
Raum für die Integration von Flexibilitäten schaffen
Neben Batteriespeichern und Demand-Side-Management ist vor allem die Elektrolyse eine wichtige Flexibilitätsoption in unserem Szenario. Durch drei Preiszonen entlang der Netzengpässe möchten wir den Strommarkt für einen hohen Anteil Erneuerbarer fit machen.
Hohe erneuerbare Stromproduktion für Elektrolyse nutzen
Eine entscheidende Flexibilitätsoption ist in unserem Szenario die Elektrolyse. Dank der hohen Kapazität an erneuerbaren Energien können die Elektrolyseure gut 6.000 Volllaststunden erreichen. Somit verbessert sich die Wirtschaftlichkeit. Ein interessanter Nebeneffekt ist die hohe innerdeutsche Wasserstoffproduktion (277 TWh), die zum einen die Abhängigkeit von Importen aus anderen Ländern begrenzt und zum anderen der Tatsache Rechnung trägt, dass Deutschland ein bedeutender Industriestandort ist. Weitere wesentliche Flexibilitätsoptionen sind die Batteriespeicher (etwa 220 TWh) mit einer Kapazität von insgesamt 160 GW, wovon 100 GW dezentrale Speicher sind. Auch das Demand-Side-Management trägt zur Flexibilität bei (20 TWh). Mit Wasserstoff betriebene Gaskraftwerke sowie Biomassekraftwerke (je 80TWh) sind für den Ausgleich der Spitzenlasten vorgesehen.
Fazit
In unserer Systemvision haben wir bewusst einen umfangreichen Ausbau modellieren lassen, um die innerdeutschen Potenziale sowie Auswirkungen auf den Infrastrukturbedarf sichtbar zu machen. Klar ist, dass die Windenergie ausreichend und rechtssicher ausgewiesene Flächen braucht, um ihren substanziellen Beitrag zu weniger Importabhängigkeit leisten zu können. Bei der Photovoltaik wollten wir das riesige Potenzial auf versiegelten Flächen im urbanen Raum abbilden. Um dies zu realisieren, bedarf es neben der Solarpflicht auch den Abbau von bürokratischen Hürden, mehr Digitalisierung und auskömmliche Vergütungsmodelle. Gerade mit Blick auf die aktuelle Importabhängigkeit fanden wir es spannend zu sehen, dass in unserem Szenario die Elektrolyseure gut ausgelastet waren und ein hoher Anteil an grünem Wasserstoff innerhalb Deutschlands produziert wurde. So könnte man über ambitioniertere Wasserstoffziele nachdenken. Schließlich sollte schon aus Kostengründen die Energieeffizienz stets mitgedacht werden. In unserem Szenario haben wir dies durch die umfangreiche Elektrifizierung gelöst, den Verkehr stärker auf die Schiene verlagert und den Fahrzeugbestand reduziert. Diese Stellschrauben könnte man noch nachziehen – und beispielsweise auch eine höhere Sanierungsrate als zwei Prozent ansetzen. Um diese Ambitionen auch umsetzen zu können, braucht es jetzt vor allem viele Fachkräfte.