Was bedeuten 70 GW Windenergie Offshore für die Energieinfrastruktur?

Von Kirsten Kleis, Referentin für Stromnetze und Erneuerbare Energien, Germanwatch e.V. und Franziska Flachsbarth, Senior Researcher Energie & Klimaschutz, Öko-Institut e.V.

Die Bundesregierung will die Windenergie Offshore bis zum Jahr 2045 auf 70 Gigawatt (GW) ausbauen. – Um dies umzusetzen, müssten Zielkonflikte aufgelöst werden.

Die Bundesregierung hat sich mit dem Koalitionsvertrag vorgenommen, die Windenergie Offshore bis zum Jahr 2045 auf 70 GW auszubauen. Dieses Ziel polarisiert. Windenergie Offshore weist einerseits eine hohe Volllaststundenzahl auf und kann so einen verlässlichen Beitrag zur Dekarbonisierung leisten. Andererseits erhöht der Ausbau von 70 GW Windenergie Offshore mit hoher Wahrscheinlichkeit den Netzausbaubedarf, wirft Fragen des Meeresschutzes auf und bringt Herausforderungen wie die zeitnahe Verfügbarkeit von Ressourcen mit sich.

Auch in den Systemvisionen gehen die Einschätzungen der Akteur*innen bezüglich des zukünftigen Ausbaus von Windenergie Offshore deutlich auseinander. Darum wollen wir uns in diesem Beitrag der Frage widmen, wo die Differenzen in der Einschätzung von Windenergie Offshore liegen, und aufzeigen, welche Maßnahmen dabei unterstützen können, Kompromisse zu entwickeln und Zielkonflikte abzumildern.

1. Positionen in der Debatte

1.1. Welche positiven Effekte haben 70 GW Windenergie Offshore?

Um die Klimaziele zu erreichen, ist eine schnelle Ablösung konventioneller Kraftwerke durch Erneuerbare Energien erforderlich. Hierbei soll laut Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck Windenergie Offshore eine wesentliche Rolle spielen (BMWK, 2021). Windenergie Offshore hat im Vergleich zu Onshore und Photovoltaik den Vorteil, dass sie höhere Volllaststunden erzielt und auch zu Zeiten von geringer Windenergieerzeugung Onshore noch zuverlässig Strom erzeugt. Sie ermöglicht insbesondere die Dekarbonisierung der Industrie und die Versorgung von Ballungsgebieten mit einem vergleichsweise geringen Planungsaufwand.

Der Ausbau von Windenergie Offshore betrifft im Vergleich zu Onshore eine kleinere Anzahl meist institutionell beteiligter Akteur*innen. Bei Windenergie Onshore tragen die zum Teil bestehenden Vorbehalte zur Verzögerung der Planungs- und Genehmigungsprozesse bei. Der Fokus auf Windenergie Offshore reduziert so den Druck auf die Konflikte an Land. Für die Dekarbonisierung der Industrie wird neben dem oben genannten regenerativen Strom auch eine große Menge grünen Wasserstoffs benötigt. Elektrolyseure sollten auch zur Amortisierung eine hohe Volllaststundenzahl aufweisen. Um dies zu gewährleisten, bietet sich die Kopplung von Windenergie Offshore und Elektrolyseur an. Ein weiterer Vorteil: Wird der Wasserstoff bereits auf See oder an der Küste erzeugt, muss die Infrastruktur nur für die Energiemengen (abzüglich geringfügiger Transportverluste) ausgebaut werden, die am Ende auch genutzt werden. Würde der Wasserstoff hingegen verbrauchsnah umgewandelt, so müsste die Stromnetzinfrastruktur auch für den Energietransport ausgebaut werden, der am Ende durch die hohen Wirkungsgradverluste von ca. 18 - 33 % (Milanzi et al, 2018) bei der Elektrolyse verloren geht.

Durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine ist noch eine weitere Dimension in die Überlegungen zu integrieren: Der Ausbau Erneuerbarer Energien muss insgesamt noch dringlicher erfolgen, um die Abhängigkeit von fossilen Energieimporten zu reduzieren.

1.2. Welche negativen Effekte haben 70 GW Windenergie Offshore?

Die Meere befinden sich in einem sehr schlechten Zustand, der die Artenvielfalt, aber auch die Wirkung der natürlichen CO2-Senke gefährdet: Sie sind überfischt, verschmutzt und zunehmend versauert (Heinrich Böll Stiftung, 2017). Um die globale Biodiversitätskrise zu stoppen und effektiven Klimaschutz zu ermöglichen, muss die Meeresumwelt in einen besseren Zustand versetzt werden. Windenergieanlagen und ihre Anbindung an Land stellen aber zunächst einen weiteren Eingriff in die Meeresumwelt dar.

Nutzungskonflikte ergeben sich zudem mit den anderen Akteur*innen auf See wie Fischerei, Marine und Schifffahrt: Die aktuell maximal zur Verfügung stehenden Flächen in Nord- und Ostsee bieten Studien zufolge Raum für 57 GW (Fraunhofer, 2017) bzw. 60 GW Windenergie Offshore (Deutsche WindGuard, 2021). Um das Potential anzuheben, müssten Flächen gemeinsam genutzt oder von anderen Nutzungsformen für die Windenergie freigegeben werden.

Mit der verstärkten Nutzung von Windenergie Offshore steigt sehr wahrscheinlich der Stromnetzausbaubedarf. Nachfrageüberschüsse bestehen insbesondere im Süden und Westen Deutschlands, und insofern Windenergie Offshore auch regionale Ausbaubedarfe von Windenergie Onshore substituiert, wird der Stromübertragungsbedarf ansteigen.

2. Handlungsoptionen

Ein klimaneutrales Energiesystem zu gestalten, bringt Zielkonflikte mit sich. In den Systemvisionen werden diese Zielkonflikte auch im Hinblick auf den Ausbau der Windenergie Offshore deutlich: Möchte man Konflikte um Artenschutz oder Flächennutzung stärker an Land oder auf See vermeiden? Welchen Anteil an Wasserstoff produziert man unter Inkaufnahme weiterer Flächenbedarfe im Inland? Welchen Anteil an Wasserstoff importiert man – wohl wissend, dass dies den Flächenbedarf ins Ausland verschiebt, Fragen nach sozial gerechten Lieferketten aufwirft und neue Importabhängigkeiten mit gegebenenfalls ebenfalls zweifelhaften Regimes erzeugt? So unterschiedlich die Positionen hier sein mögen – es gibt es auch weitgehende Einigkeit darüber, dass es grundsätzlich einer Beschleunigung des Ausbaus der Photovoltaik, Windenergie Onshore und der Windenergie Offshore bedarf.

Wir möchten nun einige Maßnahmen darstellen, welche die Konflikte abmildern und dadurch dazu beitragen können, Gemeinsamkeiten zu identifizieren und Kompromisse zu entwickeln. Die Konfliktlösung muss jetzt angegangen werden, um Verzögerungen beim Erreichen der Klimaschutzziele zu vermeiden.

2.1. Europäische Kooperationen stärken

Der Ausbau der Windenergie auf See und die Stärkung von Naturschutz im Meer sind europäische Aufgaben. Um möglichst effizient und naturverträglich vorzugehen, ist eine gemeinschaftliche Flächenplanung von Vorteil: Wenn Flächen für Windparks mit den Anrainerstaaten des jeweiligen Meeres gemeinsam geplant werden, können die Energieerzeugungsmengen erhöht werden. Zudem kann der Meeresschutz verbessert werden, wenn Naturschutzgebiete grenzüberschreitend umgesetzt werden. Auf europäischer Ebene könnten Maßnahmen definiert werden, die darauf zielen, den Zustand der Meere zu verbessern und den Eingriff durch Offshore Windenergie zu kompensieren. Es sollte auf eine Anpassung der Rahmenbedingungen hingewirkt werden, etwa durch eine bessere Harmonisierung der Raumordnungspläne auf europäischer Ebene oder durch eine Erleichterung der grenzüberschreitenden Planung von Windparks.

2.2. Interdependenzen von Windenergie Offshore diskutieren

Eine wichtige Grundlage zur Kompromissfindung ist die Betrachtung der Interdependenzen im Energiesystem: Soll der Bedarf an Windenergie Offshore reduziert werden, so müssen Möglichkeiten entwickelt werden, welche diese Lücke schließen. Ein erster Baustein bei der Kompromissentwicklung ist die Energieeinsparung. Wird ein Maßnahmenpaket implementiert, das die Nachfrage signifikant reduziert, bietet dies Potential, den Umfang von Windenergie Offshore zu reduzieren.1 Ein weiterer Baustein ist die Zielerreichung beim Zubau von Windenergie Onshore und Photovoltaik. Kann der Ausbau dort so beschleunigt werden, dass die Zuversicht steigt, die Ziele zu übererfüllen, so bietet das Potential für die Kompromissentwicklung. Speicher und die Flexibilisierung der Nachfrage bieten ebenfalls Potentiale, um Nachfrage aus den CO2-intensiven Phasen in die Phasen mit bestehenden EE-Überschüssen zu verlagern.

2.3. Wissenschaftliches Monitoring

Damit gewährleistet ist, dass der Einfluss der Windenergieanlagen auf den Zustand der Meere von einer neutralen Instanz bewertet wird, muss ein wissenschaftliches Monitoring eingeführt werden. In diesem sollten die naturschutzfachlichen Belange begleitet und kompensierende Maßnahmen entwickelt werden. Der Ausbau von Offshore-Windenergie ist eine technische und organisatorische Herausforderung, verursacht durch die eingeschränkte Verfügbarkeit von Ressourcen (Windenergieanlagen, Personal, Schiffe usw.), die zeitliche Abstimmung der Anbindung des Offshore-Windparks an das Energiesystem an Land, sowie das Risiko, Kampfmittel bergen zu müssen. Auch hierfür ist ein wissenschaftliches Monitoring angeraten, das Fortschritte und Verzögerungen überwacht, um letztlich sicherzustellen, dass die Klimaschutzziele erreicht werden. Zudem müssen Mechanismen vorgesehen werden, die Nachjustierungen ermöglichen, sobald Erkenntnisse des Monitorings dies nahelegen.

2.4. Energieinfrastruktur integriert planen

Im Zuge der Dekarbonisierung steigt die Strom-, aber auch die Wasserstoffnachfrage. Abzuwägen ist bei Offshore Windenergie zwischen dem Transport von Strom und dem von Wasserstoff, welcher direkt auf See oder am Anlandungspunkt erzeugt werden könnte. Die Entscheidung dafür muss mit Blick auf Strom- und Wasserstoffbedarfe, Umwandlungsverluste und Dimensionierung der Infrastruktur gut abgewogen werden. So kann der Infrastrukturausbau insgesamt effizienter und damit so naturverträglich wie möglich ausgestaltet werden. Die Strom- und Gasnetzplanung muss integriert erfolgen: Ein Systementwicklungsplan, der den Ausbauplänen der Sektoren Strom, Gas und Wärme vorgeschaltet ist, könnte eine kohärentere Planung der Energieversorgung ermöglichen.

3. Fazit

Um die Klimaschutzziele zu erreichen, müssen wir in Deutschland das Tempo beim Ausbau der Erneuerbaren Energien massiv erhöhen. Zielkonflikte müssen sowohl bei Windenergie Offshore als auch bei Windenergie Onshore und Photovoltaik abgemildert werden.

Es muss möglich sein, gemeinsam Kompromisse zu erarbeiteten und umzusetzen sowie gesamtsystemisch sinnvolle Nachjustierungen zu ermöglichen, die sich aus dem Monitoring ergeben. Dafür müssen Pfadabhängigkeiten identifiziert und diskutiert werden. Es könnte beispielsweise sinnvoll sein, modulare Elemente in der Planung zu berücksichtigen, die verschiedene Optionen – etwa für eine gelungene europäische Vernetzung – offenhalten. Mit der wissenschaftlichen und demokratischen Begleitung des Ausbaus steht dem Beginn der Planungen und des beschleunigten Ausbaus nichts im Wege.

Erste Kernbotschaft

Eine wichtige Grundlage zur Kompromissfindung ist die Betrachtung der Interdependenzen im Energiesystem: Soll der Bedarf an Windenergie Offshore reduziert werden, so müssen Möglichkeiten entwickelt werden, welche diese Lücke schließen.

Zweite Kernbotschaft

Europäische Kooperationen ermöglichen einen naturverträglicheren Ausbau der Windenergie Offshore.

Dritte Kernbotschaft

Ein wissenschaftliches Monitoring des Ausbaus der Windenergie Offshore gewährleistet die Achtung von naturschutzfachlichen Belangen und ermöglicht Nachjustierungen.

Vierte Kernbotschaft

Mit zunehmender Sektorenkopplung ist die Infrastrukturplanung nur als eine integrierte Planung effizient.

1 Eine Inspiration für mögliche Maßnahmen ist unter  https://energysufficiency.de/policy-database/) zusammengestellt.

Quellen:

BMWK (2021): Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Pressemitteilung Energiewende vom 20.12.2021  https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Pressemitteilungen/2021/12/20211220-habeck-zusatzliche-flachen-fur-windenergie-auf-see-bringen-dem-ausbau-der-erneuerbaren-einen-kraftigen-schub.html [abgerufen am 05.04.2022]

Deutsche WindGuard (2021): Erzeugung von Grünem Wasserstoff durch Windenergie auf See – Potential und Bedarf in Deutschland, im Auftrag der Stiftung Offshore-Windenergie,  https://www.windguard.de/veroeffentlichungen.html?file=files/cto_layout/img/unternehmen/veroeffentlichungen/2021/Erzeugung%20von%20gr%C3%BCnem%20Wasserstoff%20durch%20Windenergie%20auf%20See%20-%20Potential%20und%20Bedarf%20in%20Deutschland%20-%202021_09_22.pdf [abgerufen am 31.03.2022]

Fraunhofer (2017): Fraunhofer-Institut für Windenergie und Energiesystemtechnik, 2017 (Update einer Studie von 2013), Energiewirtschaftliche Bedeutung der Offshore-Windenergie für die Energiewende,  https://www.offshore-stiftung.de/sites/offshorelink.de/files/documents/Studie_Energiewirtschaftliche%20Bedeutung%20Offshore%20Wind.pdf [abgerufen am 31.03.2022]

Heinrich Böll Stiftung (2017): Heinich-Böll-Stiftung, Heinrich-Böll-Stiftung Schleswig-Holstein, Kieler Exzellenzcluster „Ozean der Zukunft“, Le Monde diplomatique (Hrsg.), Der Meeresatlas  https://www.boell.de/de/meeresatlas?dimension1=ds_meeresatlas [abgerufen am 11.04.2022]

Milanzi et al (2018): Sarah Milanzi, Carla Spiller, Benjamin Grosse, Lisa Hermann, Johannes Kochems, Joachim Müller-Kirchenbauer, Technischer Stand und Flexibilität des Power-to-Gas-Verfahrens, Working Paper Energie und Ressourcen, Fachgebiet Energie- und Ressourcenmanagement, Technische Universität Berlin, Stand 29.08.2018,  https://www.er.tu-berlin.de/fileadmin/a38331300/Dateien/Technischer_Stand_und_Flexibilit%C3%A4t_des_Power-to-Gas-Verfahrens.pdf [abgerufen am 22.04.2022]

Die Autorinnen

Kirsten Kleis

Kirsten Kleis ist Referentin für Stromnetze und Erneuerbare Energien und seit 2021 bei Germanwatch tätig. Sie befasst sich mit der Diskussion um die Notwendigkeit des Um- bzw. Ausbaus der Übertragungsnetze und begleitet den Dialog sowohl auf lokaler als auch auf Bundesebene. Ihre Themenschwerpunkte sind die Verknüpfung des Ausbaus Erneuerbarer Energien und Stromnetze, deren beschleunigter Ausbau sowie die Anbindung von Offshore Windenergie und Zielkonflikte beim Ausbau der Onshore Windenergie. Kirsten Kleis hat Engineering Physics mit Schwerpunkt Erneuerbare Energien an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg studiert. Anschließend arbeitete sie rund um den Ausbau und Betrieb von Übertragungsnetzen in Deutschland und dem europäischen Ausland.

Franziska Flachsbarth

Franziska Flachsbarth ist Senior Researcher im Bereich Energie und Klimaschutz im Freiburger Büro des Öko-Instituts und seit 2013 für das Öko-Institut tätig. Sie studierte Wirtschaftsingenieurwesen mit dem Schwerpunkt Energieversorgung an der BTU Cottbus und schloss als Diplom-Ingenieurin ab. Kern ihrer Arbeit beim Öko-Institut ist die Modellierung des zukünftigen Energiesystems und die Aufbereitung und Handhabung von Daten. Thematische Schwerpunkte sind Stromnetze, Investitionsentscheidungen und Dezentralität.

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