Die Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FfE) begleitet das Projekt „Systemvision 2050“ wissenschaftlich und hat die Modellierungen der Partner ausgewertet. Wir stellen die ersten Ergebnisse vor.
Im Projekt „Systemvision 2050“ haben etwa 20 Partner von Amprion ihre individuellen Systemvisionen für das erste klimaneutrale Jahr in Deutschland erstellt. Dabei konnten sie zahlreiche Parameter zu verschiedensten Technologien bestimmen oder anpassen, um das Energiesystem der Zukunft nach ihrer Vision zu gestalten. Das von Amprion entwickelte Simulationsmodell ESMA berechnet auf dieser Basis sowohl den benötigten Einsatz energietechnischer Anlagen als auch die resultierenden Energieflüsse im Gesamtsystem. Zusätzlich bestimmt es den Transportbedarf für die Infrastrukturen Strom und Wasserstoff. Die Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FfE) unterzieht sowohl die Ergebnisse des Modells als auch deren Eingangsparameter einer eingängigen Analyse und gibt der Systemvision 2050 somit eine wissenschaftliche Begleitung, um den methodischen Ansatz des Projektes zu reflektieren.
Methodisches Vorgehen
Zum Zeitpunkt der Analyse lagen Parameter-Sets von 17 Partnern vor. Weitere Modellierungen befanden sich in Arbeit, insofern ist die vorliegende Analyse als Zwischenfazit zu sehen. Um die Systemvisionen miteinander zu vergleichen und deren Ergebnisse zu interpretieren, ist die FfE in mehreren Schritten vorgegangen. Zunächst wurden die Eingangsparameter der Partner analysiert und mit Referenzwerten aus aktuellen Studien verglichen. So konnten die Streubreiten der Szenarien eingeordnet werden. Dazu wurde der Fokus auf sehr aktuelle Studien gelegt, die der heutigen gesellschaftspolitischen Debatte entsprechen. Ihnen liegen wiederum aktuelle technische und wirtschaftliche Parameter zugrunde, sie berücksichtigen zudem den heutigen sozioökonomischen Rahmen. Der Vergleich energie- und klimapolitischer Zielszenarien zeigt, dass die einer Energiesystemmodellierung zugrundeliegenden Annahmen stark vom aktuellen wissenschaftlichen Kenntnisstand und gesellschaftspolitischen Konsens abhängen.
Das dreijährige Forschungsprojekt „ eXtremOS“ der FfE belegte dies anhand zahlreicher Beispiele aus nationalen und europäischen energie- und klimapolitischen Zielszenarien. Die Ergebnisse zeigten insbesondere Veränderungen bei der Zusammensetzung des Endenergieverbrauchs im Zieljahr von Szenarien, die Dekarbonisierungsziele von 95 Prozent oder mehr gegenüber 1990 anstreben. Dabei gilt es allerdings zu berücksichtigen, dass es der Sinn und Zweck von Szenarien ist, Versionen der Zukunft zu entwerfen, die auf dem aktuellen Kenntnisstand der Forschung basieren.
Die Studien, die herangezogen wurden, um die Systemvisionen der Partner im wissenschaftlichen Kontext einzuordnen, sind in der nachfolgenden Tabelle aufgelistet. Mit Ausnahme der dena-Leitstudie „Integrierte Energiewende“ wurden alle Studien im Jahr 2021 veröffentlicht. Die ausgewählten Szenarien sind ausschließlich jene mit den höchsten Dekarbonisierungsraten, um eine bestmögliche Vergleichbarkeit mit den Anforderungen des ersten klimaneutralen Jahres zu erzielen.
In allen Systemvisionen wird von einem starken Zuwachs der volatilen Erzeugung ausgegangen. Die Annahmen der Partner decken sich mit den Szenarien der Referenzstudien. Insgesamt kann eine große Streubreite bei der volatilen Erzeugung beobachtet werden. Insbesondere bei der Photovoltaik zeigen sowohl die Referenzstudien als auch die Annahmen der Partner absolut eine große Streuung.
In den unterschiedlichen Systemvisionen konnten nur moderate Korrelationen zwischen Parametern nachgewiesen werden. Beispielsweise konnte der vermehrte Einsatz von Windenergie nicht als alleiniger Treiber für den Netzausbau identifiziert werden. Das heißt: Ergebnisgrößen wie der Netzausbau sind immer im Kontext des gesamten Annahmespektrums zu beurteilen.
Der gewählte Ansatz trägt zur Wissenserweiterung aller Projektbeteiligten bei und sollte wissenschaftlich weiter ausgebaut werden. Der Prozess des gemeinsamen Lernens an Modellen schafft Akzeptanz für Maßnahmen und ein besseres Verständnis von Systemzusammenhängen.
Neben der Einordnung der Parameter in den aktuellen, wissenschaftlichen Kontext ist ein weiteres Ziel unserer Querschnittsanalyse zu verstehen, welcher Infrastrukturbedarf durch die einzelnen Systemvisionen notwendig wird und ob dieser gegebenenfalls unabhängig gegenüber dem Szenarien-Design ist.
In den Gesprächen mit Amprion wurde auch deutlich: Der Ansatz, mit Partnern ein klimaneutrales Energiesystem zu designen, folgt nicht nur dem Fokus des Infrastrukturbedarfs. Amprion leistet hierdurch auch einen Beitrag zur Wissensbildung und schafft Verständnis für komplexe Systemzusammenhänge. Dies ist ein wichtiges Element, um Akzeptanz für bestimmte Teillösungen in der Gesellschaft zu fördern und ein breiteres Wissen über deren Bedeutung im Gesamtzusammenhang zu schaffen. Außerdem werden durch die sektorenübergreifende Betrachtung und Modellierung im Energiesystemmodell ESMA komplexe Systemzusammenhänge ersichtlich. Sie zeigen auf, dass zukünftig noch viel mehr Wissen und Einschätzungen notwendig sind, um diese Zusammenhänge besser zu verstehen. Diese Kenntnis verlangt nach einem stärkeren Austausch völlig unterschiedlicher Stakeholder, um Expertenwissen aus verschiedenen Bereichen zu vereinen.
Ergebnisse der Analyse
Die im Nachfolgenden vorgestellten Analysen und Ergebnisse stellen lediglich einen Auszug dar. Weitere Analyseergebnisse finden Sie hier .
Ergebnis 1: Die Streubreite der Parameterannahmen deckt sich bei der volatilen Erzeugung der Erneuerbaren Energien mit den Annahmen der Referenzstudien. Wind und insbesondere Photovoltaik zeigen eine starke Spannweite der Partnerannahmen und der Referenzstudien.
In einer ersten Betrachtung der Systemvisionen wurden zunächst die Parameter, welche die Partner zu Beginn selbst bestimmen beziehungsweise anpassen konnten, miteinander verglichen und einer ausführlichen Analyse unterzogen. Insgesamt konnten über 30 verschiedene Technologien und Energienachfragewerte von den Partnern angegeben werden. Dabei haben sich je nach Parameter unterschiedlich starke Streugrade der Partner ergeben. Dies zeigt, wie verschieden die Einschätzungen der Partner bezüglich der einzelnen Parameter sind. Nebenstehende Grafik zeigt eine relevante Auswahl dieser Daten und deren Streubreite im Vergleich zu den Referenzstudien.
Am Beispiel der Parameter Windenergie und Photovoltaik (PV) zeigt sich ein Bild, das sich mit den Werten aus aktuellen Studien deckt. Wenn man die Annahmen der Partner dieser Technologien mit der in ganz Deutschland installierten Leistung aus dem Jahr 2019 vergleicht, zeigt sich ein deutlicher Anstieg dieser drei Beispielparameter, um dem Energiebedarf des ersten klimaneutralen Jahres gerecht zu werden. Hierbei fällt auf, dass die Streubreiten für Windenergieanlagen an Land stärker ausfallen als für die in Küstengewässern. Dieses Verhalten geht mit den jeweiligen Gegebenheiten einher, dass das Offshore-Potenzial technisch begrenzt ist und die Akzeptanz der Bevölkerung gegenüber Wind Onshore stark variiert. Insgesamt zeigt sich aber in allen drei Parametern im Bezug auf die Größenordnung eine große Streubreite. Bei der Interpretation der Streuung ist immer zu beachten, dass die Partner bei der Datenerhebung einen auf Studien basierten Standardwert als Hilfestellung zur Verfügung hatten, den sie als Anhaltspunkt für ihre Parameterwahl verwenden konnten. Es kann durchaus der Fall sein, dass eine geringe Streubreite dadurch beeinflusst wird, dass einige Partner den Standardwert verwenden, sofern sie keine konkreteren eigenen Vorstellungen von einem Parameter haben.
Trotz der Möglichkeit, eigene Werte in der Abfrage anzugeben, zeigt sich im Vergleich zu den Referenzstudien ein eindeutiges Bild. So liegt die Streuung der Partnerabfrage größtenteils innerhalb der Streuung der ausgewählten Studien und entspricht somit dem aktuellen wissenschaftlichen Konsens. Im Bereich der Photovoltaik, bei der sich selbst in der Studienauswahl eine starke Spannweite zeigt, weichen auch die Abfragewerte der Partner mit drei Ausreißern stark vom Median ab. Der Median gibt hierbei die Mitte der Datenverteilung an, sodass gleich viele Partner gleichzeitig über- und unterhalb des Medians liegen. An diesem Beispiel lässt sich erkennen, dass das zeitliche Studiendesign mit einem Anstieg der Photovoltaikleistung zusammenhängt. So gehen Szenarien der etwas älteren dena-Studie von deutlich geringeren Werten der installierten Leistung aus, als neuere Studiendesigns wie die der Agora Energiewende.
Ergebnis 2: Abhängigkeiten zwischen Parametern und Ergebnissen: Wind ist nicht alleiniger Treiber des Netzausbaus.
In einem weiteren Schritt wurden nicht nur die Streubreiten einzelner Parameter isoliert betrachtet, sondern auch deren Wechselwirkungen untereinander. In einer umfassenden Korrelationsanalyse wurden verschiedene Parameter und deren Kombinationen in Zusammenhang mit dem Netzausbau getestet. Die Analyse fokussierte sich insbesondere auf mögliche Auswirkungen volatiler Erzeugungseinheiten und Speichertechnologien auf den Stromnetzausbau.
Im Ergebnis dieser Untersuchung zeigten sich zunächst keine ausgeprägten Korrelationen einzelner Parameter auf den Netzausbau. Dies erscheint zunächst widersprüchlich, wenn man bedenkt, dass beispielsweise ein deutlicher Anstieg an Windenergie im Norden zur Versorgung der Lastzentren in Mittel- und Süddeutschland zu mehr Stromnetzausbau führen sollte. Doch dabei muss beachtet werden, dass im Modellierungsprozess viele Parameter gleichzeitig bestimmt und variiert wurden und die Komplexität des Systems somit sehr hoch ist. Zudem führen möglicherweise das sektorenübergreifende Optimierungsmodell sowie die teilweise vom Partner vorgegebenen Netzausbau-Restriktionen zu einer Reduktion der beobachteten Korrelationen und direkten Zusammenhänge.
Durch die Kombination der Windenergie Onshore und Offshore steigt die Korrelation mit den Leistungskilometern des Stromnetzausbaus an, sodass ein Bestimmtheitsmaß von R2=0.67 erreicht wird. Das Bestimmtheitsmaß R2 gibt an, wie stark Parameter voneinander abhängen. Es kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen, wobei höhere Werte für eine bessere Abhängigkeit stehen. Somit ist das Bestimmtheitsmaß für den Zusammenhang zwischen Windenergie und inländischem Netzausbaubedarf in einem moderaten Bereich. Dies zeigt, dass die Windenergie nicht alleiniger Treiber für den Netzausbaubedarf ist.
Ergebnis 3: Lerneffekte im Verlauf der Partnerabfragen
Nach der Wahl der Parameter für den ersten Modellierungsdurchlauf haben die Partner die Möglichkeit bekommen, Einsicht in die dazugehörigen Modellierungsergebnisse zu nehmen. Bei Bedarf konnten sie daraufhin ihre ursprünglichen Annahmen anpassen oder sogar teilweise neujustieren. Auf dieser Basis wurde dann eine weitere Modellierung durchgeführt. Wenn gewünscht, konnten die Partner anschließend erneut Anpassungen an den Parametern vornehmen. Dieser iterative Modellierungsprozess ermöglichte es den Partnern, Zusammenhänge zwischen den von ihnen gewählten Parametern und dem Ergebnis besser nachzuvollziehen und so die eigene Systemvision im Modellierungsprozess besser abbilden zu können. Um Entwicklungen in diesem Anpassungsprozess und einen möglichen Lerneffekt der Partner zu identifizieren, haben wir in unseren Untersuchungen die jeweils erste und finale Version der Partner miteinander verglichen und analysiert. Dabei haben sich bestimmte Parameter hervorgehoben, die häufiger von den Partnern angepasst wurden als andere. Darunter fällt beispielsweise die installierte Leistung der Aufdach-Photovoltaik (PV), die von sieben der 17 Partner angepasst wurde.
Der Vergleich des Parameters „installierte Leistung der Aufdach-PV“ der Versionen der verschiedenen Partner zeigt einen Anstieg des Medians in der finalen Version gegenüber der ersten. Dies bedeutet, dass die Partner ihre Werte bei der Parametrisierung für den zweiten Modelldurchlauf überwiegend erhöhten. Dieser Anstieg entspricht wiederum der aktuellen gesellschaftspolitischen Debatte, in welcher vermehrt von einer zunehmenden PV-Leistung ausgegangen wird. Lediglich ein Partner korrigierte den ursprünglich angenommenen Wert deutlich nach unten. Außerdem zeigen die Daten, dass einige Partner zunächst den von Amprion vorgegebenen Wert annahmen, in der finalen Version allerdings bevorzugt eigene Werte gewählt wurden, die ihre erste Annahme überstiegen.
Bei der Betrachtung weiterer Parameter – etwa der Anzahl der Elektroautos – war ebenfalls zu beobachten, dass Partner sie nachträglich nach oben anpassten. Zusätzlich zeigte dieser Parameter, dass überwiegend jene Partner Anpassungen an ihren Daten vornahmen, die zunächst unterdurchschnittlich geringe Werte im Vergleich zu den restlichen Partnern hatten. Die Visualisierung dieser Daten findet sich in den weiteren Analyseergebnissen. Wie eingangs erläutert beruhen die bisherigen Erkenntnisse auf den Daten von insgesamt 17 Partnern und sind somit als Zwischenfazit zu sehen. Durch die Aufnahme von weiteren Partnern werden sich gegebenenfalls neue Punkte ergeben und Spannweiten der Parameterstreuung erweitern.