Die Zeit ist reif – für ein bisschen Entschiedenheit!

Von Dr. René Mono, geschäftsführender Vorstand bei der 100 prozent erneuerbar stiftung

Es gibt viele Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem. Das Projekt „Systemvision“ macht sie klarer und ermöglicht es, auf einer anderen Grundlage als bisher an wichtigen Weggabelungen über Infrastruktur zu entscheiden.

Viele Wege führen nach Rom, weiß der Volksmund. Das klingt erstmal positiv, impliziert aber auch eine gewisse Herausforderung. Denn wer erst einmal auf dem Brenner steht, dem hilft die Überlegung wenig, ob der Weg über den San Bernardino oder durch den Gotthard-Tunnel nicht doch besser gewesen wäre. Mit anderen Worten: Bevor man die Reise nach Rom antritt, muss man sich erst einmal für eine Route entscheiden. Und wer gegen plötzlich auftretende Reue-Anwandlungen auf der Reise gefeit sein will, der muss die Routenoptionen gegeneinander abwägen.

Die Metapher ist zugegebenermaßen etwas platt, trifft aber doch auf die Energiewende zu. Es gibt viele Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem. Diese These haben bisher schon verschiedene Studien nahegelegt, die aber wegen zum Teil sehr unterschiedlicher Methodiken nur schlecht miteinander zu vergleichen sind. Mit dem Projekt „Systemvision“ erbringt Amprion nun den bisher fehlenden Beweis für die These. Dies ist äußerst verdienstvoll. Denn so wird ein Manko der bisherigen Energiewendepolitik deutlich, das bisher noch kaum erheblich war – weil man gewissermaßen auf dem Weg nach Rom noch nicht über den Main hinausgekommen ist und so noch manche Weggabelungen unterschiedliche Routen zulassen. Doch irgendwann kommt der Moment der Entscheidung. Und im Falle der Energiewende rückt er näher, je mehr Infrastrukturentscheidungen zu treffen sind. Das ist die wesentliche Erkenntnis, die ich aus meiner Systemvision ableite.

Dezentralität macht vieles einfacher, aber nicht alles

Meine Vision für das neue Energiesystem setzt mit Photovoltaik (installierte Leistung auf Dach: 140 Gigawatt (GW); auf der Freifläche: 85 GW) und Wind an Land (180 GW) auf zwei Erzeugungsoptionen, die gut dezentral einsetzbar und über das Land verteilbar sind. Gemeinsam erzeugen sie annähernd 600 Terawattstunden (TWh) Strom und decken damit rund 60 Prozent des gesamten Stromverbrauchs. Dieser wird sich aufgrund der Elektrifizierung von Wärme und Verkehr – Wärmepumpen werden rund 42 Prozent der Wärmeerzeugung beitragen; Autos rund 60 TWh Strom verbrauchen – auf 1.013 TWh erhöhen. Alle anderen Optionen – inklusive Wind offshore – sind angesichts der Dominanz von Wind onshore und Photovoltaik, die durch Batteriespeicher in Höhe von circa 70 TWh ergänzt werden, nur komplementär. Die damit einhergehende Dezentralisierung der Erzeugung hat unmittelbare Auswirkungen auf die Infrastruktur:

Es wird kaum Stromnetzausbau über den Netzentwicklungsplan (NEP) 2040 hinaus erforderlich sein. Lediglich eine zusätzliche HGÜ-Trasse – zwischen Sachsen-Anhalt und Bayern – wird notwendig. Auch in der europäischen Betrachtung ist kaum Netzausbaubedarf erkennbar. Die Stromhandelsbilanz Deutschlands ist praktisch ausgeglichen. Ich mache kein Hehl daraus: Dieses Ergebnis hat mich gefreut. Denn die 100 prozent erneuerbar stiftung vertritt schon lange die Meinung, dass eine dezentrale Energiewende eine Reduktion des Netzausbaubedarfs impliziert. Und diese These findet in meiner Systemvision eine deutliche Bestätigung. Alle, die über Jahre hinweg lautstark verkündet haben, ein Ausbau von Photovoltaik und Windenergie an Land müsse „netzsynchron“ erfolgen, lassen sich damit widerlegen.

Zur Ehrlichkeit gehört aber auch: Wir werden viel Wasserstoff importieren müssen. Kaum mehr als 10 Prozent wird durch Elektrolyse in Deutschland erzeugt werden können; 522 TWh müssen importiert werden. Woher er auch immer stammen mag, bleibt offen. Folgt man aber dieser Systemvision, würde das erhebliche Anforderungen an den Umbau- und Aufbau entsprechender Transportkapazitäten stellen. Es ist unmittelbar richtig, hierbei vorzugsweise auf die existierenden Gasnetze zu setzen. Inwieweit das möglich ist, hängt unter anderem auch von den Wasserstoffterminals ab, die in dieser Vision eine gewichtige Rolle spielen, aber deren Verortung und Kapazität nicht optimiert, sondern extern vorgegeben wurden.

Erste Kernannahme

Erzeugungskapazitäten: Windenergie an Land (180 GW) und Photovoltaik (Aufdach-Anlagen: 140 GW und auf der Freifläche: 85 GW) bilden die tragende Säule des zukünftigen Energiesystems.

Zweite Kernannahme:

Wind Offshore mit einer installierten Gesamtleistung von 35 GW spielt im Erzeugungsmix eine komplementäre Rolle.

Dritte Kernannahme:

Die Gesamtstromnachfrage verdoppelt sich mit der Elektrifizierung von Wärme und Verkehr im Jahr 2050 im Vergleich zu 2020 auf 1.013 TWh.

Vierte Kernannahme:

Die Wasserstoffnachfrage könnte 2050 bis auf 522 TWh steigen.

Auch diesbezüglich will ich freimütig bekennen: Deutlich weniger Wasserstoffimport wäre mir aus vielerlei Gründen, die alle mittelbar mit der Reduzierung der Abhängigkeit von Energieimporten zu tun haben, lieber gewesen. Aber letztlich ist die Energiewende auch kein Wunschkonzert. Gut gefallen hat mir hingegen, dass die Methannachfrage mit weniger als 150 TWh relativ gering ist – sicherlich eine Folge davon, in der Wärmeversorgung vorrangig auf eine direkte Elektrifizierung zu setzen.

Der richtige Systementwicklungspfad – eine normative, keine technologische Frage

Bei der Frage, wie man nach Rom gelangt, kann Google Maps eine wichtige Entscheidungsgrundlage liefern. Die Entscheidung müssen aber die Fahrenden selbst treffen. Was wollen sie auf dem Weg sehen, was erleben, was vermeiden? Ganz ähnlich ist es bei der Energiewende. Technisch ist vieles möglich. Welche Route man wählt, ist eine politische und gesellschaftliche Frage. Nichts ist falscher als die Parole, man müsse Pfadabhängigkeiten vermeiden. Infrastrukturentscheidungen geben logischerweise Pfade vor. Die Pfade müssen sorgfältig geprüft und bewertet werden. Dafür haben wir noch nicht einmal Kriterien entwickelt: Teilhabe, Verteilung der Wertschöpfung, Akteursvielfalt, Vermeidung von natürlichen Monopolen (soweit möglich), Resilienz in jeder Hinsicht, Friktionsvermeidung und Schnelligkeit, auch Agilität – all das wären mögliche Kriterien, anhand derer die unterschiedlichen Systementwicklungspfade zu bewerten wären. Dies sollte in einem möglichst offenen Diskurs erörtert werden, als dessen Resultat eine möglichst einvernehmliche und damit robuste politische Entscheidung steht.

Eine Wunschvorstellung, gewissermaßen aus dem Märchenbuch der deliberativen Demokratie? Mag sein. Aber dass Amprion mit seinem Projekt Systemvision die Grundlage dafür schafft, ist – das lässt sich ohne Übertreibung sagen – ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Ein Schritt, der mir persönlich Hoffnung macht.

Der Autor:

Dr. René Mono

Dr. René Mono ist seit 2015 geschäftsführender Vorstand der 100 prozent erneuerbar stiftung, deren Geschäftsführer er seit 2011 war. Der promovierte Kommunikationswissenschaftler ist darüber hinaus Vorstand des Bündnis Bürgerenergie (BBEn). Er sitzt jeweils im Beirat der Bürgerwerke und der Naturstiftung David. Bis 2011 war er sieben Jahre bei der Agentur Ketchum Pleon, unter anderem in Brüssel.

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