Es gibt viele Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem. Das Projekt „Systemvision“ macht sie klarer und ermöglicht es, auf einer anderen Grundlage als bisher an wichtigen Weggabelungen über Infrastruktur zu entscheiden.
Viele Wege führen nach Rom
, weiß der Volksmund. Das klingt erstmal positiv, impliziert aber auch eine gewisse Herausforderung. Denn wer erst einmal auf dem Brenner steht, dem hilft die Überlegung wenig, ob der Weg über den San Bernardino oder durch den Gotthard-Tunnel nicht doch besser gewesen wäre. Mit anderen Worten: Bevor man die Reise nach Rom antritt, muss man sich erst einmal für eine Route entscheiden. Und wer gegen plötzlich auftretende Reue-Anwandlungen auf der Reise gefeit sein will, der muss die Routenoptionen gegeneinander abwägen.
Die Metapher ist zugegebenermaßen etwas platt, trifft aber doch auf die Energiewende zu. Es gibt viele Wege zu einem klimaneutralen Energiesystem. Diese These haben bisher schon verschiedene Studien nahegelegt, die aber wegen zum Teil sehr unterschiedlicher Methodiken nur schlecht miteinander zu vergleichen sind. Mit dem Projekt „Systemvision“ erbringt Amprion nun den bisher fehlenden Beweis für die These. Dies ist äußerst verdienstvoll. Denn so wird ein Manko der bisherigen Energiewendepolitik deutlich, das bisher noch kaum erheblich war – weil man gewissermaßen auf dem Weg nach Rom noch nicht über den Main hinausgekommen ist und so noch manche Weggabelungen unterschiedliche Routen zulassen. Doch irgendwann kommt der Moment der Entscheidung. Und im Falle der Energiewende rückt er näher, je mehr Infrastrukturentscheidungen zu treffen sind. Das ist die wesentliche Erkenntnis, die ich aus meiner Systemvision ableite.
Dezentralität macht vieles einfacher, aber nicht alles
Meine Vision für das neue Energiesystem setzt mit Photovoltaik (installierte Leistung auf Dach: 140 Gigawatt (GW); auf der Freifläche: 85 GW) und Wind an Land (180 GW) auf zwei Erzeugungsoptionen, die gut dezentral einsetzbar und über das Land verteilbar sind. Gemeinsam erzeugen sie annähernd 600 Terawattstunden (TWh) Strom und decken damit rund 60 Prozent des gesamten Stromverbrauchs. Dieser wird sich aufgrund der Elektrifizierung von Wärme und Verkehr – Wärmepumpen werden rund 42 Prozent der Wärmeerzeugung beitragen; Autos rund 60 TWh Strom verbrauchen – auf 1.013 TWh erhöhen. Alle anderen Optionen – inklusive Wind offshore – sind angesichts der Dominanz von Wind onshore und Photovoltaik, die durch Batteriespeicher in Höhe von circa 70 TWh ergänzt werden, nur komplementär. Die damit einhergehende Dezentralisierung der Erzeugung hat unmittelbare Auswirkungen auf die Infrastruktur:
Es wird kaum Stromnetzausbau über den Netzentwicklungsplan (NEP) 2040 hinaus erforderlich sein. Lediglich eine zusätzliche HGÜ-Trasse – zwischen Sachsen-Anhalt und Bayern – wird notwendig. Auch in der europäischen Betrachtung ist kaum Netzausbaubedarf erkennbar. Die Stromhandelsbilanz Deutschlands ist praktisch ausgeglichen. Ich mache kein Hehl daraus: Dieses Ergebnis hat mich gefreut. Denn die 100 prozent erneuerbar stiftung vertritt schon lange die Meinung, dass eine dezentrale Energiewende eine Reduktion des Netzausbaubedarfs impliziert. Und diese These findet in meiner Systemvision eine deutliche Bestätigung. Alle, die über Jahre hinweg lautstark verkündet haben, ein Ausbau von Photovoltaik und Windenergie an Land müsse „netzsynchron“ erfolgen, lassen sich damit widerlegen.
Zur Ehrlichkeit gehört aber auch: Wir werden viel Wasserstoff importieren müssen. Kaum mehr als 10 Prozent wird durch Elektrolyse in Deutschland erzeugt werden können; 522 TWh müssen importiert werden. Woher er auch immer stammen mag, bleibt offen. Folgt man aber dieser Systemvision, würde das erhebliche Anforderungen an den Umbau- und Aufbau entsprechender Transportkapazitäten stellen. Es ist unmittelbar richtig, hierbei vorzugsweise auf die existierenden Gasnetze zu setzen. Inwieweit das möglich ist, hängt unter anderem auch von den Wasserstoffterminals ab, die in dieser Vision eine gewichtige Rolle spielen, aber deren Verortung und Kapazität nicht optimiert, sondern extern vorgegeben wurden.
Erzeugungskapazitäten: Windenergie an Land (180 GW) und Photovoltaik (Aufdach-Anlagen: 140 GW und auf der Freifläche: 85 GW) bilden die tragende Säule des zukünftigen Energiesystems.
Wind Offshore mit einer installierten Gesamtleistung von 35 GW spielt im Erzeugungsmix eine komplementäre Rolle.
Die Gesamtstromnachfrage verdoppelt sich mit der Elektrifizierung von Wärme und Verkehr im Jahr 2050 im Vergleich zu 2020 auf 1.013 TWh.
Die Wasserstoffnachfrage könnte 2050 bis auf 522 TWh steigen.